Thierse wie viel identität verträgt die gesellschaft

Der ehemalige Bundestagspräsident zeigte sich in seinen Wortmeldungen um die Debattenkultur besorgt. Im Einzelnen ging er etwa auf die Umbenennung von Straßen ein, die er mit der Politik in einer Diktatur verglich. Er schrieb auch, wenn Lehrende an Hochschulen Studierende fragen müssten, mit welchen Pronomen sie angesprochen werden wollten, sei das "keine Harmlosigkeit mehr".

Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, fürchtet beim Thema Identitätspolitik, eine Fokussierung auf verletzte Gefühle von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen führe dazu, dass bestimmte Debatten womöglich nicht mehr so stattfinden, dass die Chance besteht, dass sich die Menschen aufeinander zu bewegen würden.

"Wir hatten in den letzten Jahren immer wieder Debatten, wo von Anfang klar wird, das wird nicht konstruktiv enden, sondern ganz im Gegenteil: dass die beiden Lager sich unversöhnlich gegenüber stehen werden", sagt der Mitherausgeber des Buches "Triggerwarnung".

"Wir erleben immer mehr, dass statt über Argumente über Gefühle und Verletzungen gesprochen wird, und wir verlieren langsam – oder schneller – die Möglichkeit, eine sachliche Debatte zu solchen Themen zu führen."

In diesem Sinne argumentierte auch Ulrike Ackermann in unserer Morgensendung: "Es wird nicht eine Auseinandersetzung geführt mit dem Argument, dass man einer bestimmten Position mit einer anderen Position begegnet, sondern – und das ist das Fatale der Identitätspolitik – dass vornehmlich aus der Herkunft heraus argumentiert wird", sagt die Politologin und Soziologin. "Das heißt, aus einem Opferstatus heraus, der dann die verletzten Gefühle zum Thema macht und nicht mehr die Argumente."

Mendel wiederum findet, es sei durchaus wichtiges Anliegen der Identitätspolitik, die Aufmerksamkeit auf die Perspektive von Gruppen in der Gesellschaft zu lenken, deren Stimmen nicht gehört würden und die marginalisiert würden.

Aber, so Mendel: "Es ist schwierig, wenn die Erwartung geweckt wird, dass der öffentliche Raum ein Safer Space wird, wo ich nur Inhalte höre, die mich nie verletzen werden. Das ist zwar wünschenswert, aber nicht realistisch."

Er habe den Text von Wolfgang Thierse in der Frankfurter Allgemeinen so gelesen, dass der 77-Jährige sich wünsche, aus der Sackgasse der Identitätspolitik herauszukommen – "an einigen Stellen zwar ungeschickt", so Mendel, "aber da habe ich nicht den Unwillen gesehen, sondern den Wunsch nach einer Debatte."

Der Debattenwunsch sei aber nicht aufgegriffen worden, sagt Mendel mit Blick auf Saskia Essen und Kevin Kühnert, "sondern es wurde wie oft in solchen Debatten moralisiert".

Mendel bemängelt das Verhalten der prominenten SPD-Politikern: "Auf die Argumente wurde nicht mit Gegenargumenten – und es gibt gute Gegenargumente – reagiert, sondern es wurde behauptet, man schäme sich." Damit sei der Diskurs von einer Sach- auf eine Gefühlsebene gehoben worden, was in seinen Augen nicht zuträglich sei.

"Teile der Identitätspolitik – die problematischen – schauen gerade nicht auf die Argumente, sondern es reicht, dass es ein weißer, alter Mann ist, der spricht, damit ihm das Recht abgesprochen wird, bestimmte Argumente vorzubringen."

Bascha Mika sagte in unserer Sendung "Studio 9 - der Tag mit ...", es gehe bei den von Thierse aufgeworfenen Fragen um die Frage der Identität der SPD, denn dahinter stehe die Frage: "Sind Fragen von Kultur und Zugehörigkeit wichtiger als verteilungspolitische Fragen – geht es eher um das Soziale und Ökonomische oder geht es um Identitätsfragen, die durch ethnische, soziale oder sexuelle und kulturelle Merkmale bestimmt sind?"

Die Journalistin Bascha Mika nimmt in der Mittagssendung Stellung zum Verhalten der SPD-Politiker Saskia Essen, Kevin Kühnert und Wolfgang Thierse.

Die frühere Chefredakteurin von "taz" und "Frankfurter Rundschau" fordert diese Diskussion ein und kritisiert das Verhalten der SPD-Führung: "Das sind Grundsatzfragen, die muss man diskutieren. Dann anzufangen, den Diskurs einfach auszusetzten, indem man sich gegenseitig beschimpft, wie Esken und Kühnert das getan haben – das ist der Tod im Topf der SPD."

Es gehe auch um einen Generationenkonflikt, meint Meron Mendel, und fordert mehr gegenseitige Akzeptanz. Er erhofft sich von der jungen Generation, die sensibler sei, dass sie älteren Menschen, die anders sozialisiert wurden, mehr Zeit gebe, ihre Sprache anzupassen. Zugleich sollten sich die, die andere Gewohnheiten haben, sich bewegen und auch prüfen, wo sie – womöglich sogar bewusst – verletzend seien.

Unter der Überschrift „Wieviel Identität verträgt die Gesellschaft“ hat Wolfgang Thierse in der FAZ zu der Frage Stellung bezogen, wie sich gesellschaftliche Pluralität mit dem für sozialen Zusammenhalt erforderlichen Gemeinsinn verträgt. Er wendet sich gegen eine subjektive Betroffenenperspektive, die der Gesellschaft ihre Sichtweise gewisser Dinge auferlegen wolle. Die Konturen des Gemeinsinns seien im demokratischen Diskurs zu verhandeln, der mit den Anerkennungsansprüchen einzelner gesellschaftlicher Gruppen in Konflikt geraten könne. Gleichzeitig konzediert er allerdings die Notwendigkeit, erfahrene Benachteiligungen zu überwinden. Wie aber lassen sich erfahrene Benachteiligungen überwinden, die der Gemeinsinn billigt oder gar erzeugt?

Hier berührt Thierse einen zentralen Streitpunkt der Weimarer Staatsrechtslehre. Ein Rückblick darauf kann für die heutige Debatte lehrreich sein. In der neu gegründeten Republik stellte sich das Problem von Gemeinsinn und Pluralität zum ersten Mal mit voller Wucht. War es bis zur Reformation die Religion, die für soziale Integration sorgte, so bildete danach bis zur Achsenzeit die Unterordnung unter einen souveränen Fürsten den notwendigen Referenzpunkt. Mit der französischen und amerikanischen Revolution setzte sich die Idee der Volkssouveränität unaufhaltsam in den Köpfen durch, wenngleich ihre Anerkennung in der Verfassungswirklichkeit gerade in Deutschland zunächst noch auf sich warten ließ. Die Aufgabe, Gemeinsinn zu stiften, übernahm nun der Begriff der Nation. Im Kontext des 19. Jahrhunderts konnte die Idee der Nation aber nur integrierend wirken, indem sie die grassierenden sozialen Konflikte ausblendete und sich eine kulturelle Färbung gab. Oft genug glitt dies ins Rassistische ab.

In der Weimarer Republik ließ sich die soziale Frage nicht mehr unter den Teppich der Verfassung kehren. Der Verfassungsgeber übertrug dem Staat die Aufgabe, für mehr materielle Gleichheit zu sorgen. Die damit verbundene Umverteilung erforderte ein hohes Maß an Gemeinsinn. Zugleich aber garantierte die neue Verfassung auch denjenigen die volle Gleichberechtigung, die bisher sozial marginalisiert oder von der Zensur unterdrückt waren. Die kulturelle Vielfalt der Weimarer Zeit legt bis heute davon ein beeindruckendes Zeugnis ab. Doch was, wenn diese Vielfalt mit dem Gemeinsinn kollidierte?

Carl Schmitt löste den Konflikt zu Lasten der Pluralität. Ein Volk halte zusammen dank seiner „substanziellen Gleichartigkeit“. Sie gehe der Verfassung voraus und sei durch Glaube, „Rasse“, Schicksal oder Tradition bestimmt. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme ersetzte Schmitt „Gleichartigkeit“ durch „Artgleichheit“, womit alles über diese Begrifflichkeit gesagt ist. Heute folgt die identitäre Rechte in diesen Fußstapfen. Dagegen verwahrt sich Thierse zu Recht.

Den entgegengesetzten Weg wählten Hans Kelsen und die Wiener Schule des Rechtspositivismus. Sie trennten strikt die rechtliche Form des Staats von seinem sozialen Substrat und befreiten damit die Rechtsordnung von jeglichem Bezug zum Gemeinsinn. Eine Bresche für einen übersteigerten Individualismus schlugen sie damit zwar nicht. Als Sympathisant der Sozialdemokratie und Republikaner in der Tradition von Rousseau ist Kelsen solcher Umtriebe unverdächtig. Die Frage aber bleibt, was den Staat dann noch zusammenhält.

Rudolf Smend, prägende Gestalt für das Verfassungsrecht der Weimarer Zeit wie der frühen Bundesrepublik, verwies auf die integrierende Kraft des Führungspersonals, institutioneller Strukturen und staatlicher Symbole. Für einen freiheitlich-demokratischen Staat erscheint es aber unangebracht, der Gesellschaft die Denkrichtung vorzugeben. Der Schmitt-Schüler und Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde bezeichnete daher 1964 den gesellschaftlichen Zusammenhalt als jene Voraussetzung des Staats, die dieser selbst nicht garantieren könne. Er lasse sich nur um den Preis eines Abgleitens in den Totalitarismus erzwingen. Freiheit allein garantiere jedoch keinen Gemeinsinn. Ein scheinbar unlösbarer Konflikt. Doch gerade durch den Hinweis auf die Unlösbarkeit gelang es Böckenförde, Teile der mit der säkularen Bundesrepublik und besonders der Emanzipationsbewegung hadernden Bevölkerung mit dem Grundgesetz zu versöhnen. Er entwertete ihre Forderung nach einem geistig-moralischen Kompass nicht, verwies sie aber ins Gesellschaftliche, rechtlich Unerzwingbare. Gegenüber einem totalitären Staat war das die vorzugswürdige Alternative.

Nun aber geraten zunehmend einzelne Aspekte dieses gesellschaftlichen Gemeinsinns in die Kritik. Auch ohne rechtliche Verbindlichkeit tragen sie zur fortgesetzten Marginalisierung ganzer Bevölkerungsgruppen bei. Das Ergebnis sind vielfältige Forderungen nach kultureller Anerkennung, die auch die Sprachpraxis betreffen. Man kann darin durchaus eine Neuauflage des Weimarer Konflikts zwischen Gemeinsinn und Pluralität sehen.

Wie lässt sich diese Spannung auflösen? Eine Tendenz in der derzeitigen Debatte weist das Verlangen nach kultureller Anerkennung weitgehend zurück, weil es dem Gemeinsinn gefährlich werden könne. Das scheint auch Thierse umzutreiben. Zwar seien sozioökonomische Benachteiligungen zu beheben. Forderungen auf kulturelle Anerkennung, wie etwa nach geschlechtergerechter Sprache, könnten aber „gemeinschaftsbildende Kommunikation“ bedrohen. Denkmäler in Frage zu stellen laufe gar auf eine „Liquidation von Geschichte“ hinaus. Sofern dabei auch noch die Situation der Sprecher*innen problematisiert wird, sehen manche gar das Ende der Aufklärung gekommen. Doch eigentlich leisten die selbsternannten Retter*innen der Aufklärung ihr damit einen Bärendienst. Kritik im besten aufklärerischen Sinn lässt sich nicht an einem bestimmten Punkt anhalten. Man muss keiner postmodernen Theorie anhängen, um den Versuch, den Rahmen zulässiger Kritik enger abzustecken, als Gefahr für das kantische Projekt der Befreiung des Menschen aus selbst verschuldeter Unmündigkeit zu werten. Dadurch würde Aufklärung zum Mythos, wie bereits Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ angemahnt haben.

Kritik an den bestehenden Zuständen ist also legitim, auch wenn sie schmerzt, auch wenn manches Verlangen nach Anerkennung als demokratische Zumutung empfunden wird. Doch die Spannung zwischen Gemeinsinn und Pluralismus hat sich damit nicht erledigt. Die Maßgeblichkeit des subjektiven Betroffenheitsgefühls würde in den umgekehrten Mythos münden.

An dieser Stelle hilft das Werk desjenigen Weimarer Staatsrechtslehrers weiter, der dem Sozialmodell der Bundesrepublik gedanklich am nächsten steht. Die Rede ist von dem bereits 1933 verstorbenen Hermann Heller. Nach ihm bilde ein Staat eine Kulturgemeinschaft, aus der sie ihren Gemeinsinn beziehe. Heller grenzt die Kulturgemeinschaft gegen völkische Anwandlungen scharf ab. Sie sei keinesfalls homogen oder statisch, sondern von Konflikten durchzogen, wodurch sie sich ständig fortschreibe. Das versetze den Staat in der Lage, Neuankömmlinge zu integrieren. Diesen Schritt geht Thierse mit, wenn er konzediert, dass der Gemeinsinn in der demokratischen Öffentlichkeit neu verhandelt werden könne.

Die erfolgreiche Integration in die Kulturgemeinschaft steht aber nach Hermann Heller unter der Voraussetzung sozioökonomischer Homogenität. Sie erst schaffe ein „Wirbewusstsein“, das gesellschaftliche Konflikte zu bewältigen in der Lage sei. Gemeinsinn ist demnach nicht die Voraussetzung, sondern bestenfalls die Folge sozioökonomischer Integration. Daraus lässt sich ein von subjektiver Betroffenheit abstrahierender Maßstab für die Grenzen des Gemeinsinns gewinnen: Sofern Elemente des Gemeinsinns einschließlich sprachlicher Praktiken der sozioökonomischen Integration gewisser Bevölkerungsgruppen im Weg stehen, hat der Staat sie zu hinterfragen und gegebenenfalls auf ihre Änderung hinzuwirken. Das kann der Fall sein, wenn diese Praxis nachweisbar zu Rollenzuschreibungen führt, die dem beruflichen Erfolg der Betroffenen im Weg stehen können. Wer Betroffenen zuhört, wird übrigens feststellen, dass ihr Kampf um kulturelle Anerkennung meist kein Selbstzweck ist, sondern von der Hoffnung auf bessere sozioökonomische Integration zehrt.

Diese Integration kann das freie Spiel demokratischer Kräfte, auf das Thierse verweist, oft nicht mehr bewirken. Die Funktionsbedingungen demokratischer Repräsentation haben sich seit Heller erheblich verändert. Heller geht von leistungsfähigen intermediären Institutionen wie insbesondere Parteien aus, die den Unterprivilegierten Mehrheiten sichern. Die von Andreas Reckwitz beschriebene Singularisierung der Gesellschaft im 21. Jahrhundert hat die großen Intermediäre der Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts in ihrer Wirkung eingeschränkt. Viele gesellschaftliche Gruppen sind in das institutionelle Räderwerk der Demokratie nur unzureichend eingebunden.

Aus dieser Einsicht folgt keine Absage an die Demokratie zugunsten einer Diktatur der Partikularinteressen. Wohl aber die Notwendigkeit einer ethischen Politik, einer sozial-moralischen Wende, die das Diktum Böckenfördes umdreht: Der demokratische Rechtsstaat kann die Voraussetzungen seiner Existenz garantieren, soweit er für umfassende sozioökonomische Integration sorgt. Gewiss, der Staat kann sich wirtschaftlich getriebenen Dynamiken wie der Singularisierung nur in Grenzen entziehen. Auch soll er um der sozialen Integration willen nicht zum paternalistischen Tugendwächter degenerieren. Dazwischen gibt es aber unendlich viele Möglichkeiten, sozialer Exklusion entgegenzuwirken und dadurch Gemeinsinn zu stiften. Ihr Spektrum reicht von attraktiven, inklusiven öffentlichen Schulen über die Gewährleistung fairer Arbeits-, Aufstiegs- und Entlohnungsbedingungen bis zur Förderung von Sport und Kultur. Gerade Kultur ist kein Luxus, der sich in der Krise dezimieren oder privatisieren lässt, sondern in ihrer ganzen Vielfalt ein essentielles Feld gesellschaftlicher Selbstverständigung. Sie verleiht auch Stimmlosen eine Stimme, die wiederum deren sozioökonomische Integration fördern kann. Nur ein derart gestärkter, integrativer Staat mag sich in den Konflikten bewähren, die ihm globale Krisen wie Pandemien und Klimawandel oder eine veränderte geopolitische Lage aufbürden. Wer im Kampf um Anerkennung den status quo ängstlich verteidigt, hat hier bereits verloren.