Wo durften ddr bürger urlaub machen

Wo durften ddr bürger urlaub machen

Im August 1986: Ein Mann trägt Milcheimer auf einem Zeltplatz in Radeburg. Imago/Werner Schulze

Rein ins Internet, Hotel aussuchen, buchen, schnell zum Flughafen und ab in die Ferien: Heute ist Urlaubsplanung so einfach. Und deshalb ist Reisen für viele auch austauschbarer geworden. Zu DDR-Zeiten war das anders. Die raren Urlaubsplätze verlangten lange Planung. Der Trip nach Ungarn – unvergesslich. Der Campingplatz an der Ostsee – ein Traumziel. Dem Reisen in der DDR widmet sich jetzt die neue digitale Plattform des in Eisenhüttenstadt beheimateten Museums Utopie und Alltag, die auf Bürgerwissen setzt, als Grundlage eines interaktiven Archivs. Gesucht werden Ihre Geschichten von damals. 

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Mit dem Stern Camping Radio auf der Schwalbe raus aufs Land, zum nächsten See oder bis an die Ostsee: Bei solchen Ausflügen begleiteten den DDR-Bürger ein knatterndes Geräusch und markanter Gestank. Mit dabei war auch nicht selten eine Platz sparende Plastikbüchse für zwei Eier, inklusive Löffel und Salzstreuer.

„So eine Eierdose habe ich noch von meiner Oma. Das unverwüstliche Utensil war bei jedem Ausflug mit dem Zug dabei und kam erneut zum Einsatz, als meine Kinder klein waren“, erinnert sich jemand aus Berlin. Notiert hat er oder sie diese Erinnerungen auf der neuen digitalen Plattform.

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„Wir öffnen unsere Depots und bieten Besuchern in der Corona-Pandemie die Gelegenheit, unsere Sammlungen digital zu entdecken“, erzählt Sabrina Kotzian, Projektleiterin für das neue Angebot. Das Museum Utopie und Alltag  vereint rund 170.000 Objekte im Dokumentationszentrum DDR-Alltagskultur in Eisenhüttenstadt sowie etwa 18.500 Gemälde, Plastiken und Installationen aus DDR-Zeiten im Kunstarchiv Beeskow.

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So stylisch konnte die DDR sein: ein Stern Camping Radio Utopie und Alltag

Nicht nur die Dinge und Kunstwerke selbst seien interessant, sondern auch die Geschichten dahinter, sagt Kotzian. „Gerade die Alltagsgegenstände stecken voller Erinnerungen: Wie wurden sie genutzt, taugten sie im Gebrauch etwas, waren sie eher Mangelware? Solche Informationen wollen wir jetzt ebenfalls sammeln“. Nur so lasse sich Jahrzehnte später nachvollziehen, wie das Leben in der DDR gewesen sei.

„Im Jahr 1980 gingen meine Frau und ich auf unsere erste große, also wirklich weite Reise. Wir fuhren mit dem Freundschaftszug nach Odessa und nach Kiew“, erzählt ein Bertold L. auf der Internetseite. „In unserer Zeitung des Kreises Teterow, der ‚Freien Erde‘ wurde darüber in einer Artikelserie berichtet. Unseren Kindern brachten wir von dort Matroschkas mit und russisches Konfekt.“

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Das Faltboot Randfichte: Museumsmitarbeiterin Sabrina Kotzian inmitten der DDR-Ausstellung. dpa/Pleul

Wer etwas über die Alltagskultur in der DDR erfahren wolle, müsse ins Museum Utopie und Alltag. Aber weil das in Corona-Zeiten nicht immer ganz einfach sei, habe das Museum die digitale Plattform entwickelt, sagt Brandenburgs Kulturministerin Manja Schüle (SPD). „Eine großartige Idee. Das Doppel-Museum ist bundesweit einzigartig und leistet einen außergewöhnlichen Beitrag bei der Bewahrung und Erforschung der Alltags- und Kunstgeschichte der DDR.“ Das Kulturministerium unterstützt das Dokumentationszentrum jährlich mit 150.000 Euro, das Kunstarchiv mit 168.000 Euro.

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Unter der Überschrift „Von Dingen und Menschen, die uns etwas erzählen“ finden sich auf der Plattform rund 100 Objekte zum Thema Reisen, zu DDR-Zeiten eine eher heikle Angelegenheit, wenn es ins Ausland gehen sollte: Die Reisefreiheit war stark eingeschränkt, in den Westen durften DDR-Bürger in der Regel erst als Rentner, auch Ausflüge gen Osteuropa mussten meist beantragt werden. Camping im eigenen Land stand hoch im Kurs, da Ferienplätze in Erholungsheimen rar waren.

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Zum Beispiel ein Campingradio der Marke Stern, ein Kulturbeutel der DDR-Fluggesellschaft Interflug, ein Wanderkocher Piccolo, eine Matroschka, ein Verzeichnis der Campingplatze der Tschechoslowakei oder Werke von DDR-Künstlern, die früher in DDR-Ferienheimen hingen, sollen Nutzer der Plattform dazu anregen, aufzuschreiben, was sie damit noch heute verbinden. Bisher noch ein Manko: Sie können nicht direkt miteinander agieren oder Beiträge anderer kommentieren. „Da müssen wir noch Datenschutz-Grundsätze berücksichtigen“, berichtet die Projektleiterin. Weitere Themen etwa zum DDR-Design oder auch zu Spielen und Spielsachen sind in Vorbereitung.

Auch heute noch begehrt: Ein Moped der Marke Schwalbe. Imago/jmfoto

Die gesammelten Geschichten, Fotos der Plattform-Nutzer und deren Reiseerinnerungen sollen in eine neue Sonderausstellung im Dok-Zentrum Eisenhüttenstadt einfließen. Unter dem Titel „Transnationaler Tourismus im Ost-Block“ geht es dann um die „Grenze der Freundschaft“ zwischen Polen, der DDR und der ehemaligen CSSR. „Zwischen 1972 und der Wende bestand zwischen diesen drei Ländern ein freizügiges Reiseabkommen ohne die Notwendigkeit von Visa“, erklärt die Museumsmitarbeiterin. Was nicht ganz stimmt: Die Visafreiheit bei Reisen aus der DDR nach Polen wurde wegen des Aufkommens von Solidarnosz 1980 beendet.

Bis dahin hofft sie auf eine rege Beteiligung auf der digitalen Plattform, die seit November vergangenen Jahres nutzbar ist. Prominente wie den Filmkritiker Knut Elstermann und die Schriftstellerin Marion Brasch konnte die Projektleiterin bereits dafür gewinnen, ihre eigenen Erinnerungen zu beschreiben.

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Arne Lindemann vom Brandenburger Museumsverband sagt: „In Eisenhüttenstadt und Beeskow werden neue Wege beschritten, um mit dem Publikum zu kommunizieren und die Sammlungen digital zu entdecken. Ein tolles Projekt, für das ich mir Nachahmer in weiteren Museen des Landes wünsche.“ Er ist gespannt auf die möglicherweise neuen Erkenntnisse im Zusammenhang mit der DDR-Geschichte. Das geht auch Projektleiterin Kotzian so. „Mich interessiert, welche Gebrauchsgegenstände es auch über die Wende geschafft haben, welche inzwischen sogar Kult sind“, sagt sie.

Campingurlaub an der Ostseeküste, wie hier in Prerow, war bei DDR-Bürgern beliebt (© picture alliance/ZB - dpa-Report, Foto: Rolf-Peter Frischmann)

DA: Sie haben zum Urlaubsverhalten in der DDR promoviert. Was kann eine Untersuchung der Freizeitgewohnheiten zur Erkenntnis des Zustands einer Gesellschaft beitragen?

Heike Wolter: Urlaub – das klingt für die meisten Menschen erst einmal ganz privat. Doch Reisen hat immer auch eine gesellschaftliche Komponente: Wie steht es um geografische und kulturelle Vorlieben? Wie werden die Bedingungen an möglichen Reisezielen eingeschätzt? Welche ökologischen Aspekte erscheinen vertretbar? In Diktaturen kommt ein nicht unerheblicher politischer Gehalt dazu: Reisen sind eben nicht nur Privatvergnügen, sondern unterliegen dem Einfluss des Staates. Für die DDR war das besonders offensichtlich: Es gab günstige Reisen für jedermann innerhalb der DDR, aber restriktive Reisebedingungen für das Ausland.

DA: Die DDR verankerte den Anspruch auf bezahlten Urlaub in ihrer Verfassung und 1951 entstand ein diesbezügliches Rahmengesetz. Was waren die Vorbilder?

Heike Wolter: Sicher schloss die DDR an die Errungenschaften der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik an. Das tat sie aber nicht explizit. Sowohl in der Weimarer Zeit als auch später in der DDR ging es um die Entprivilegierung des Reisens. Noch komplizierter gestalteten sich Anlehnungen an das Engagement des nationalsozialistischen Staates im touristischen Bereich. Kraft durch Freude (KdF) und Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB) agierten mit der Aufgabe, Gewerkschaftsmitgliedern günstige Ferienreisen anzubieten, durchaus ähnlich. Nur gesagt wurde das in der DDR natürlich nicht – die antifaschistische DDR und der nationalsozialistische Staat durften keine Gemeinsamkeiten aufweisen.

DA: In welchen Punkten sehen Sie Ähnlichkeiten und finden Sie den Vergleich von FDGB und KdF-Bewegung gerechtfertigt?

Heike Wolter: Wenn der Vergleich tatsächlich ein Vergleich und keine Gleichsetzung ist, dann ist er sicher gerechtfertigt. Die Ähnlichkeiten lassen sich nicht abstreiten. Ob nun das „Seebad der 10.000“ in Prora oder das „1. Sozialistisches Seebad“ auf der Schaabe, ob MS „Arkona“ oder Kdf-Flotte, ob Reisen als „Geschenk des Führers“ oder Urlaubsfreuden als „Errungenschaft unserer Arbeiter-und-Bauern-Macht“ – in beiden Fällen ging es darum, Urlaub und Reisen der Bürger zu kontrollieren, aber auch als Erfolg der Sozialpolitik zu propagieren. Der Staat stand nun vor dem Problem, solche Formen kollektiver Freizeitgestaltung fördern zu wollen, andererseits aber jeden Bezug zum NS-Regime zu vermeiden.

DA: Wie machten DDR-Bürger im Allgemeinen Urlaub, gibt es deutliche Trends über die Jahre?

Heike Wolter: Die Entwicklung in der DDR verlief – natürlich in ganz anderem Ausmaß – durchaus vergleichbar zur Bundesrepublik. Während der Existenz der DDR zwischen 1949 und 1989 gab es mehrere Trends: Erstens stieg die Reiseintensität stetig. Das bedeutete, dass immer mehr Personen einmal oder mehrmals pro Jahr in den Urlaub fuhren. Das geschah – vor allem ab den 1960er/1970er Jahren, zunehmend mit dem privaten Pkw. Außerdem lässt sich feststellen, dass der Anteil von Auslandsreisen zunahm, allerdings in der DDR begrenzt auf einige sozialistische Staaten.

DA: Was bestimmte diese Trends? Welche äußeren Faktoren spielten dabei eine Rolle?

Heike Wolter: Die Reiseintensität erhöhte sich durch den gesetzlichen Anspruch auf bezahlte Urlaubszeiten (Mindesturlaubstage wurden im Laufe der Jahre erhöht), die Einführung der Fünftagewoche, die Verfügbarkeit von Unterkünften und anderer touristischer Infrastruktur und nicht zuletzt durch das Angebot finanziell erschwinglicher Reisen. Für den touristischen „Take-off“, den raschen Anstieg der Reiseintensität, sorgte ebenfalls die Information der Menschen über mögliche Reiseziele und ihre Vorzüge. Aber auch die Motorisierung führte zu mehr und anderem Reisen. Während beispielsweise 1971 jeder dritte Urlauber mit dem eigenen Pkw unterwegs war, galt dasselbe 1980 schon für mehr als 50 Prozent. Durch die Flexibilität von Auto oder Zweirad ergaben sich auch andere Reiseziele und neue Unterbringungsformen. Den „Duft der großen, weiten Welt“ atmeten DDR-Bürger wiederum durch mediale Darstellungen in Ost und West, durch organisierte Reisen ins sozialistische – und in ganz geringem Maße auch nicht-sozialistische – Ausland. Letzteres waren kontingentierte Angebote von Jugendtourist und dem Reisebüro der DDR.

DA: Änderten sich diese Faktoren über den Zeitraum 1949 bis 1989?

Heike Wolter: Die sozialgeschichtlichen Trends lassen sich über den gesamten Zeitraum verfolgen. Immer wichtiger wurde die Auseinandersetzung von Bürgerinnen und Bürgern mit den politischen Rahmenbedingungen des Reisens. Während anfangs die Zufriedenheit über das sozialpolitische Engagement des Staates beim Reisen überwog, wuchs mit der Zeit die Kritik an der Qualität der angebotenen Reisen. Noch wichtiger war, dass mehr und mehr Menschen das Eingesperrtsein in der DDR kritisierten. Nicht umsonst war „Visafrei bis nach Hawaii“ einer der Slogans auf den Montagsdemonstrationen im Herbst 1989.

DA: Entsprach das Angebot der Nachfrage?

Heike Wolter: Nein. Zum einen ist damit gemeint: „Nein, grundsätzlich nicht.“ Das durch Friedrich Christian Delius‘ Roman „Der Spaziergang von Rostock nach Syracuse“ bekannt gewordene Beispiel von Klaus Müller, der für eine italienische (Urlaubs-)Reise sogar Republikflucht beging, ist dafür symptomatisch. Zum anderen meine ich mit „Nein“ aber auch: Nein, Angebot und Nachfrage deckten sich oft nicht. Es gab zahlreiche Probleme: Die Versorgung am Urlaubsort war nicht immer gewährleistet, die zentralen Ferientermine sorgten für unzureichende Angebote in der Hochsaison und die politische Beeinflussung, vor allem bei FDGB-Reisen, gehörte manches Mal zum Urlaubsprogramm.

DA: Wie hoch war die Subventionsquote des Sozialtourismus in der DDR, für den einzelnen Reisenden und als makroökonomische Kosten für den Staat?

Heike Wolter: Für eine abschließende Beurteilung fehlen dazu die nötigen Daten. Damit man sich aber einen Eindruck verschaffen kann: Es gibt Informationen zum Reisepreis für Urlauberinnen und Urlauber bei Reisen mit dem FDGB-Feriendienst. Dort zeigt sich, dass die Subventionsquote immer weiter anstieg. Zahlte der Urlauber 1976 noch 43 Prozent des Reisepreises, waren es 1988 nur noch 25 Prozent. Das bedeutete, dass der Feriendienst immer mehr subventioniert werden musste. In der „Binnenfinanzierung“ spielte das kurzfristig keine Rolle, da das System gar nicht auf Wirtschaftlichkeit angelegt war, jedoch im Auslandstourismus. Eine nicht frei konvertierbare Währung, Konkurrenz mit anderen Staaten, eine negative Handelsbilanz und chronischer Devisenmangel beschränkten die Angebote. Die Subventionsquote für die sozialtouristischen Anbieter explodierte übrigens ab den 1970er Jahren, als das „Neue Ökonomische System“ durch die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ abgelöst wurde.

DA: Waren diese Urlaubsfahrten und die Erteilung der notwendigen Ferienschecks auch Mittel der sozialen Sanktion und Kontrolle?

Heike Wolter: Offiziell konnten sich für Reisen mit dem Feriendienst des FDGB alle Gewerkschaftsmitglieder bewerben. Bei einer Mitgliedschaftsquote von 97 Prozent der Beschäftigten war das also kein Auswahlkriterium. Aber für die Vergabe der Ferienschecks existierten offizielle (und inoffizielle) Zuweisungskriterien. Offiziell war die Wiederherstellung der Arbeitskraft wichtig (Bevorzugung von Schicht- und Schwerarbeitern) und die Familienförderung. Aber bei den tatsächlich vergebenden Abteilungs- und Betriebsgewerkschaftsleitungen finden sich Hinweise darauf, dass es auch um Engagement bei der Arbeit und im „sozialistischen Kollektiv“ ging. Schließlich wurden bei Auslandsreisen, insbesondere bei solchen in kapitalistische Staaten, deutlich politische Maßstäbe bei der Vergabe angelegt.

DA: Und welche Hindernisse standen einem Individualurlaub der DDR-Bürger entgegen?

Heike Wolter: Innerhalb der DDR waren viele Anbieter im touristischen Bereich an den FDGB gebunden. Das heißt, dass deren Angebote auf dem freien Markt gar nicht zur Verfügung standen. Am ehesten ließ sich Individualurlaub auf Campingplätzen und durch Aufenthalte bei Verwandten, Bekannten oder Freunden realisieren. Im sozialistischen Ausland waren Devisenbeschränkungen (Maximalsätze, die kaum zur Selbstversorgung reichten), engmaschige Reiseverlaufskontrollen und ebenfalls mangelnde Kapazitäten auf dem freien touristischen Markt Hemmnisse für Individualurlauber.

DA: Und ab wann wurden Auslandsziele für DDR-Bürger eine realistische Option und wohin ging es dann?

Heike Wolter: Auslandsreisen wurden vor allem ab dem sogenannten touristischen Take-off eine Option. Auch wenn prozentual viel weniger DDR-Bürger als Deutsche aus der Bundesrepublik ins Ausland reisten, wurde die Auslandsreise als mögliche Option doch zunehmend Normalität. Natürlich galt das nur für sozialistische Staaten: Andere Reiseziele wurden nur in verschwindend geringer Menge im organisierten Tourismus angeboten, individuelle Reisemöglichkeiten bestanden dorthin gar nicht. Aber innerhalb der Staatengemeinschaft des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) reisten beispielsweise 1989 eineinhalb Millionen DDR-Bürgerinnen und -Bürger organisiert ins Ausland. Davon fuhren 700.000 in die Tschechoslowakei, 141.000 nach Polen – wohin die Reisetätigkeit wegen der Reformbestrebungen allerdings eingeschränkt worden war –, 387.000 in die UdSSR, oft in Form von Kollektivreisen während eines Studiums, 134.000 nach Ungarn, 116.000 nach Bulgarien und 35.000 nach Rumänien. Nach Jugoslawien durften DDR-Bürger kaum reisen, da das Land seine Grenzen gen Westen nicht so sicherte, wie von der Regierung in Ost-Berlin gewünscht, und weil dort Reiseleistungen auf Dollarbasis verrechnet wurden. Reisen in außereuropäische sozialistische Staaten waren nur in Einzelfällen möglich.

DA: Und wie verhielt sich die Regierung dazu?

Heike Wolter: Für den Staat war das eine Herausforderung. Einerseits war klar, dass viele DDR-Bürgerinnen und -Bürger gesellschaftliche Entwicklungen, wie sie täglich im „Schaufenster Bundesrepublik“ zu sehen waren, wünschten. Insofern war deutlich das staatliche Bemühen um eine Ausweitung der Angebote zu erkennen. Andererseits waren Auslandsreisen politisch nur teilweise erwünscht und ökonomisch belastend.

DA: Gab es in der „klassenlosen Gesellschaft“ dennoch „Klassenunterschiede“ oder Unterschiede in der Reisetätigkeit zwischen den Einkommensklassen?

Heike Wolter: Die gab es sicherlich, aber bei weitem nicht in dem Maße wie in der Bundesrepublik. Der unterschiedslose FKK-Strand gilt nicht ganz zu Unrecht als Symbol des DDR-Urlaubs schlechthin. Klassenunterschiede zeigten sich eher beim Zugang zu bestimmten Reisen. Es gab welche, die nur jenen offenstanden, die sich im Sinne des sozialistischen Ideals würdig erwiesen hatten.

DA: Das Bild haben viele Menschen heute Kopf, wenn sie an Urlaub in der DDR denken: Gemeinsames Camping und Freikörperkultur. Es ist also mehr als nur ein Klischee?

Heike Wolter: So stark wie das Bild strapaziert wird, entsprach es sicher nicht der Realität. Aber einen wahren Kern hat es. Camping war eine probate Möglichkeit der individuellen Urlaubsgestaltung. Für die Freikörperkultur, die ab den 1970er Jahren staatlicherseits deutlich gefördert wurde als unpolitische Freiheit für DDR-Bürger, gilt ebenso: Klischee mit wahrem Kern. Tatsache war: Hüllenlos galt als normal. Es entstanden FKK-Zeltplätze, -Strandabschnitte, und -Reiseführer. FKK als Protest mag es auch gegeben haben, doch vermutlich war FKK zumeist eine Frage von Möglichkeiten und persönlichen Vorlieben.

DA: Wie verhielt es sich in den Nachbarländern des Warschauer Pakts? Reisten Polen oder Tschechoslowaken oder Bulgaren anders?

Heike Wolter: Den westdeutschen Reiseweltmeistern kann man getrost die ostdeutschen Reiseweltmeister beistellen. Die Reiselust der Deutschen war beidseits der Elbe eine Tatsache – und ist es bis heute. Polen, Tschechoslowaken, Bulgaren reisten deutlich häufiger nur im Inland. Obwohl viele von ihnen mehr Möglichkeiten gehabt hätten – manche Grenze war auch mit legalen Mitteln leichter zu überwinden als jene zwischen der DDR und „dem Westen“. In der UdSSR spielte in dieser Hinsicht das Datschenwesen eine wichtige Rolle – Urlaub wurde einfach im Wochenendhäuschen gemacht.

DA: Für viele Menschen, die 1989 in den Städten der DDR auf die Straße gingen, war neben Redefreiheit auch die Reisefreiheit ein wichtiger Motivator. Dabei ging es selbstverständlich nicht um die schiere Möglichkeit, an die Algarve zu fliegen, oder doch?

Heike Wolter: Den Demonstranten, die beispielsweise das Schild „Visafrei bis nach Hawaii“ trugen, ging es vermutlich nicht um die nächste Urlaubsreise – egal wohin. Da spiegelte sich in einem griffigen Slogan die Auseinandersetzung mit einem Staat, der bis ins Privatleben vorschrieb, was zu tun oder zu lassen war. Außerdem ging es in diesen Protesten grundsätzlich um die Einschränkung von Menschenrechten in der Diktatur der DDR. Aber man kann auch sagen, dass Reisefreiheit ganz konkret als diese gemeint war. Anders ist nicht zu erklären, dass sich im Sommer 1990 und in den Folgejahren Millionen von (ehemaligen) DDR-Bürgerinnen und -Bürgern auf den Weg machten, um die klassischen Auslandsreiseziele der Bundesdeutschen zu erkunden: Italien, Spanien und Österreich.

DA: Wie groß waren die realen Unterschiede in der Reiseintensität zwischen der Bundesrepublik und der DDR und wo lagen die Unterschiede?

Heike Wolter: Da gab es praktisch keine. Die Zahlen in der Tourismusstatistik sind nicht gut vergleichbar, aber: In ihren jeweiligen politischen Systemen (Blöcken) waren beide Staaten die Führenden in der Reiseintensität. Unterschiede gab es vor allem bei den Reisezielen, die ja entscheidend von den politischen Rahmenbedingungen abhängig waren. Jene Rahmungen führten auch zu massiven Unterschieden in der ökonomischen Wirkung von Tourismus. Insgesamt lässt sich sagen, dass entscheidende Unterschiede in der Wahrnehmung bestanden: Reisebuchung und Reisezuteilung sind eben nicht dasselbe.

DA: Und hat sich das Urlaubsverhalten der Ostdeutschen nach der Einheit verändert? Hat es sich dem westdeutschen Tourismus angeglichen oder spezifische Eigenschaften behalten?

Heike Wolter: Das Reiseverhalten der Mehrheit hat sich erstaunlich rasch an das der Westdeutschen angeglichen. Die Befunde lassen vermuten, dass die Ostdeutschen zumindest im Kopf die gesellschaftlichen Entwicklungen im Reiseverhalten schon bis 1989 antizipiert hatten und nun zumeist realiter nachholten. Aber natürlich gibt es auch Spezifika, wobei fraglich ist, inwieweit diese tatsächlich „ostdeutsch“ sind oder eher regionalspezifisch, so wie es eben auch Unterschiede im Reiseverhalten von Bayern und Niedersachsen gibt. Dass Menschen auch in ihrem Reiseverhalten von ihrer Sozialisation geprägt sind, ist ja nichts Systemspezifisches.

DA: Gibt es so etwas wie eine touristische Mauer? Machen die Deutschen Urlaub „drüben“ – also in der „anderen“ Landeshälfte?

Heike Wolter: Immer am Anfang des Jahres erscheint in der „New York Times“ eine Liste mit „52 Places to go“ für das Folgejahr. Deutschland war für 2018 ganz vorn dabei – aber nur der westliche Teil. Ob das vielleicht etwas mit der touristischen Mauer zu tun hat? Den Deutschen selbst scheint es nicht anders zu gehen. Noch immer reisen viele Menschen aus den neuen Bundesländern in den westlichen Teil der Republik, umgekehrt aber viel weniger. Und: Noch immer machen Ostdeutsche sehr gerne Urlaub innerhalb der neuen Bundesländer. Die neueste Statista-Umfrage zeigt bei möglichen Mehrfachnennungen: 27 Prozent der Ostdeutschen, aber nur 10 Prozent der Westdeutschen verbrachten einen Urlaub an der Ostsee (hingegen 5 Prozent versus 13 Prozent an der Nordsee). Für Bayern sind die Unterschiede nicht gar so ausgeprägt (10 Prozent Ostdeutsche, 14 Prozent Westdeutsche). Lediglich einige wenige Städte (Berlin, Dresden, Leipzig und Weimar) ziehen in namhaften Größenordnungen Menschen aus den alten Bundesländern an. Da gibt es sicher noch eine Mauer, die aber nicht nur mit der Vergangenheit, sondern auch mit der gegenwärtigen Wahrnehmung der neuen Bundesländer – Stichwort abwertende Bezeichnungen wie „Dunkeldeutschland“ – zu tun haben könnte.

Interview: Clemens Maier-Wolthausen

Zitierweise: „Visafrei bis nach Hawaii“ – Urlaubsträume, Trends und Reiseziele in der DDR, Interview mit Heike Wolter, in: Deutschland Archiv, 30.5.2018, Link: www.bpb.de/269663