Wie viele auschwitz überlebende gibt es noch

Wie kann an die Shoah erinnert werden? Was vermag Kunst? Was kann jede*r Einzelne tun, damit die Shoah nicht wieder passiert? Ausgangspunkt des multimedialen Projekts "Auschwitz und Ich" sind die Gemälde und Zeichnungen David Olères.

Julia Riedhammer und Christine Thalmann haben sich von Überlebenden des Holocausts in Krakau, Berlin, Paris, Tel Aviv und Jerusalem ihre Schicksale erzählen lassen. Sie haben die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau besucht und sind an die Orte des Verbrechens gegangen. In Paris haben sie Serge und Beate Klarsfeld getroffen, die den Nachlass von David Olère mit zugänglich gemacht haben. Marc Oler, der Enkel von David Olère, erzählt anhand der Gemälde seines Großvaters die Geschichte eines Überlebens.

"Auschwitz und Ich" geht auf ein Projekt des NDR von 2015 zurück und entwickelt es weiter.

In der Schweiz leben mehrere hundert Menschen, die der Judenvernichtung der Nazis entkamen. Doch die Behörden interessierten sich jahrzehntelang nicht für sie. Erst die Debatten um Raubgold und nachrichtenlose Vermögen führten zu einem Umdenken.

Marc Tribelhorn 24.01.2020, 12.00 Uhr

Einige konnten in der Nacht davor kein Auge zutun, so aufgeregt waren sie. Andere kauften sich neue Kleider, so bedeutend war ihnen die Zusammenkunft vom letzten Sonntag im Bankettsaal des Bernerhofs, gleich neben dem Bundeshaus, wo normalerweise Staatsempfänge stattfinden. Rund 50 Holocaust-Überlebende aus allen Landesteilen wurden von Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga empfangen – 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz-Birkenau, jener mörderischsten aller NS-Tötungsfabriken. «Es war mein Wunsch, Sie persönlich kennenzulernen», betonte Sommaruga in ihrer Ansprache. «Sie wurden von den Nazis und deren Mittätern verfolgt, und Sie haben viel Unheil erlitten. Das Mindeste, was wir tun können, ist, Ihnen zu zeigen, dass Sie und Ihre Familien bei uns gut aufgehoben sind.»

Mit dem gemeinsamen Mittagessen, an dem auch ein Dutzend Geschichtsstudierende der Universität Bern teilnehmen durften, hat die Bundespräsidentin ein wichtiges Zeichen gesetzt. Die jüngste und letzte Generation, die den Terror der nationalsozialistischen Judenverfolgung überlebte, tritt langsam ab. Die biologische Uhr tickt, die Zeitzeugen werden immer weniger. Ivan Lefkovits, der als Kind in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Bergen-Belsen interniert war, sieht es denn auch als «grosse Ehre, dass die offizielle Schweiz bereit ist, Stellung zu nehmen und uns freundschaftlich zu empfangen». Auch der Auschwitz-Überlebende Gabor Hirsch ist dankbar, dass nun endlich «mit uns statt über uns gesprochen» wird.

«Kaltherziger» Umgang

In der Schweiz gibt es noch 400 bis 600 Holocaust-Überlebende. Wie viele es genau sind, weiss niemand. Einige, die den Horror jener Zeit durchgemacht hatten, zogen sich zurück und sprachen nie mehr über ihre Erlebnisse – über Verfolgung, Deportation, Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager, Leichenberge und den Verlust von Familienangehörigen. Auch wer ein KZ überlebt hat, wird es nie mehr los.

Die bundesrätliche Geste kommt sehr spät. «Aber besser als gar nicht», erklären mehrere der Gäste, die stets auch erwähnen, wie dankbar sie seien, als Flüchtlinge in der Schweiz aufgenommen worden zu sein. Bedauerlich sei, dass viele Betroffene die Anerkennung des Leids nicht mehr erleben konnten. Simonetta Sommaruga, die sich viel Zeit nahm für persönliche Gespräche, ist sich dessen bewusst: Die Holocaust-Überlebenden seien nach dem Krieg allzu «kaltherzig» behandelt worden.

Tatsächlich war der Umgang der offiziellen Schweiz mit diesen Menschen während Jahrzehnten bestenfalls unsensibel. Die Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg war rigide und ist in der wissenschaftlichen Literatur längst detailliert dokumentiert. Zwar retteten sich rund 52 000 zivile Schutzsuchende in die Eidgenossenschaft, wovon gut 20 000 jüdisch waren. Aber just im August 1942 wurde die Grenzschliessung beschlossen, obwohl der Bundesrat von Berichten über Massentötungen Kenntnis erhielt. «Das Boot ist voll», war die Devise bis im Frühjahr 1944. Im Erlass der Eidgenössischen Polizeiabteilung hiess es: «Flüchtlinge nur aus Rassegründen, z. B. Juden, gelten nicht als politische Flüchtlinge.»

Pflicht zur Weiterreise

Weniger bekannt ist, dass für die Betreuung der Flüchtlinge hierzulande vor allem jüdische Organisationen aufkamen und dass die Flüchtlinge schon kurz vor Kriegsende zur Rück- oder Weiterreise gedrängt wurden. In der Folge kam es zu mehreren Massentransporten ins Ausland, vor allem nach Palästina. An der strengen behördlichen Praxis gab es aber auch Kritik. Der Plan, die von den Nazis freigekauften «Kasztner-Juden» in ein Zwischenlager in Algerien abzuschieben, wurde nach Protesten von Hilfsorganisationen und der Bevölkerung verworfen. Auch unter Betroffenen lösten die forcierten Ausreisen Widerstände aus. So weigerten sich vor allem jüdische Flüchtlinge aus Deutschland, nach dem Krieg dorthin zurückzukehren, wie es die Schweizer Behörden von ihnen verlangten.

«Natürlich gab es auch die humanitäre Schweiz, die zum Beispiel Kindern aus dem KZ Bergen-Belsen einen Erholungsurlaub ermöglichte», sagt der Historiker Simon Erlanger, der sich mit der Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg beschäftigt hat. «Aber die fremdenpolizeiliche Haltung gegenüber jüdischen Schutzsuchenden besass eine lange Kontinuität. Man befürchtete weiterhin eine ‹Verjudung› der Schweiz und wollte diese Menschen so schnell wie möglich wieder weghaben.» Von den 20 000 jüdischen Flüchtlingen verliessen fast alle die Eidgenossenschaft in der Nachkriegszeit. Nur etwa 1500 «Härtefälle» und Personen, denen es immer wieder gelang, ihre Ausreise hinauszuzögern, durften letztlich im Land bleiben. Erst Anfang der 1950er Jahre, so Erlanger, sei die Pflicht zur Weiterreise weggefallen. Die Schweiz trat damals der Uno-Flüchtlingskonvention bei. Nach dem Ungarn-Aufstand 1956 und dem Prager Frühling 1968 kamen schliesslich mehrere tausend Flüchtlinge in die Schweiz, unter denen sich auch Holocaust-Überlebende befanden. Diese wurden nun aber nicht mehr als jüdische Opfer des Nationalsozialismus wahrgenommen, sondern als Gegner des Kommunismus, die man grosszügig willkommen hiess.

«Wir waren isoliert»

In der Schweiz war das Schicksal von Holocaust-Überlebenden während des Kalten Kriegs denn auch kaum je ein Thema. Die politischen Entscheidungsträger hatten kein Interesse daran. Offiziell schienen sie ja alles richtig gemacht zu haben und gingen zur Tagesordnung über. Der vom Bundesrat in Auftrag gegebene Flüchtlingsbericht Carl Ludwigs von 1957 sowie Alfred A. Häslers Buch «Das Boot ist voll» von 1967 (später verfilmt von Markus Imhoof) wiesen zwar bereits auf die «Schatten des Zweiten Weltkriegs» hin, sorgten aber nur kurzzeitig für Debatten.

Auch die Holocaust-Überlebenden wollten zur «Normalität» zurückfinden. Sie hatten überdies keine Lobby und blieben mit ihren schrecklichen Erinnerungen meist allein. Selbst nach Jahrzehnten sprachen viele nicht einmal im engsten Familienkreis über das Erlebte – aus Scham, aber auch aus Rücksicht. Eltern wollten ihre Kinder nicht damit belasten; die Kinder fragten nicht, um ihre Eltern nicht zu verletzen. Erst die Generation der Enkel hat angefangen, vermehrt und offen zu fragen, was den Grosseltern einst widerfahren war. Dass es nur wenig Betreuungsangebote für diese schwer traumatisierten Menschen gab, war kein Spezifikum der Schweiz, sondern auch anderswo so. Bezeichnenderweise wurde erst 1995 die Kontaktstelle für Überlebende des Holocaust ins Leben gerufen – 50 Jahre nach Kriegsende war sie die erste, selbst initiierte Gruppe in der Schweiz, in der sich Überlebende austauschen konnten. «Wir waren isoliert», erklärte der Gründer Gabor Hirsch einmal. «Niemand – nicht einmal die jüdischen Gemeinden – wusste, wer alles in den Konzentrationslagern gewesen war.» Fast zeitgleich brach der Streit über nachrichtenlose Vermögen und Raubgold über das Land herein, in dessen Folge klarwurde, dass die Verbrechen der Nazis auch einen Konnex zur Schweiz hatten.

Braucht es ein Denkmal?

Seither ist die Erinnerungskultur in der Schweiz eine andere. Angefangen mit der Rede des damaligen Bundespräsidenten Kaspar Villiger, der sich 1995 offiziell entschuldigte: «Es steht für mich ausser Zweifel, dass wir mit unserer Politik gegenüber den verfolgten Juden Schuld auf uns geladen haben.» Die historische Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs durch die sogenannte Bergier-Kommission hat vertiefte Kenntnisse gebracht. Erst im Zuge jener heftigen Debatten der späten 1990er Jahre drang es ins öffentliche Bewusstsein, dass es auch in der Schweiz Holocaust-Überlebende gibt. Die Eidgenossenschaft ist inzwischen Mitglied in der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), die sich weltweit für Aufklärung und Gedenken engagiert. In diesem Rahmen entstand etwa 2017 die Wanderausstellung «The Last Swiss Holocaust Survivors», die Zeitzeugen und Nachkommen eine Stimme verleiht. Die Kontaktstelle für Überlebende des Holocaust wurde 2011 als Verein wieder aufgelöst; die Gruppe trifft sich aber bis heute, einige Mitglieder haben ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben und veröffentlicht, andere besuchen als Zeitzeugen Schulklassen.

Ist Bundespräsidentin Sommarugas Treffen der Schlusspunkt einer zaghaften Anerkennung der Opfer durch die offizielle Schweiz? Für den Historiker Jacques Picard, Autor des Standardwerks «Die Schweiz und die Juden 1933–1945» und Mitglied der Bergier-Kommission, ist das Engagement Ausdruck einer neuen internationalen Erinnerungskultur, in der Staaten viel genauer hinsehen, wer wann Unrecht erlitten hat. «Jetzt muss es aber weitergehen, zum Beispiel mit einer offiziellen Anerkennung vergessener Opfer des Nationalsozialismus, insbesondere auch jener Hunderte von Schweizerinnen und Schweizern, die aus unterschiedlichen Gründen in Konzentrationslagern interniert waren.» So sei auch die seit längerem existierende Idee eines zentralen Denkmals weiterzuverfolgen. «Man könnte sich so in die Gedenkkultur der europäischen Staaten einordnen und ein weiteres Informationsangebot schaffen», erklärt Picard.

Bundespräsidentin Sommaruga reist nun nach Polen an die Gedenkzeremonie zur Befreiung von Auschwitz-Birkenau vom 27. Januar. Mit dabei sein wird auch eine Delegation von Studierenden aus Bern – die Erinnerung an den Holocaust soll von einer jungen Generation weitergetragen werden.