Warum ist Österreich nicht in der NATO

Ralph JANIK: Der Letzte, wo ich mich erinnern kann, war damals noch unter Bundeskanzler Schüssel nach den Angriffen von 9/11 wo er damals erstmals - oder nicht erstmals, es wurde früher auch von der FPÖ immer wieder hinterfragt - aber er hat einen Punkt aufgeworfen, die Welt hat sich verändert, ist es vielleicht auch Zeit, die Neutralität zu überdenken, oder sich vielleicht klar zu bekennen, ein klares Bekenntnis in die ein oder andere Richtung, eben zum Westen abzugeben und damit auch die Neutralität aufzugeben.

Diana KÖHLER: Vor fast genau 66 Jahren am 26. Oktober 1955 ist die österreichische Neutralität in Kraft getreten. Österreich erklärte sich damit zum militärisch neutralen Land. Und wir feiern daher jährlich den Nationalfeiertag. Aber zunächst einmal hallo und herzlich Willkommen zurück zu einer neuen Folge von "Parlament erklärt". Mein Name ist Diana Köhler.

Tobias GASSNER-SPECKMOSER: Und ich bin Tobias Gassner-Speckmoser. In unserer heutigen Folge sprechen wir mit dem Politikwissenschaftler Ralph Janik über die Ursprünge unserer Neutralität, was sie heute noch konkret für uns bedeutet, und welche Folgen es hätte, wenn wir sie je ablegen sollten.

***** JINGLE *****

KÖHLER: Lieber Herr Janik, stellen Sie sich doch bitte zunächst einmal vor!

JANIK: Ja, ich bin Ralph Janik. Ich bin Universitätslektor in Wien und Budapest für Völkerrecht und im Rahmen meiner Forschung befasse ich mich auch mit der Neutralität und ihrer Auswirkungen bzw. ihrem Zusammenspiel mit bewaffneten Konflikten, Sanktionen des UN-Sicherheitsrates und Autorisierungen zur Gewaltanwendung des UN-Sicherheitsrates.

GASSNER-SPECKMOSER: Was bedeutet es denn im Allgemeinen, wenn ein Staat "neutral" ist?

JANIK: Wenn ein Staat seine Neutralität erklärt, dann sagt er, dass er in allen zukünftigen bewaffneten Konflikten, zwischenstaatlichen bewaffneten Konflikten, sich nicht einmischen wird. Das heißt, er wird nicht Partei ergreifen, sei es durch Waffenlieferungen, sei es durch indirekte Unterstützung, wie zum Beispiel, dass es ein Gebiet zur Verfügung stellt, dass Truppen durch sein Gebiet verlegt werden können oder indem er wirklich direkt militärisch eingreift. Sondern er sagt eben als neutraler Staat, euer Streit geht mich nichts an, ich halte mich raus und ich werde keinen von euch beiden in irgendeiner Form unterstützen. Das kann man eben immerwährend erklären, wie Österreich das gemacht hat, wir sagen, wir sind in allen zukünftigen Konflikten bzw. genaugenommen Kriegen zwischen Staaten neutral, man kann aber auch ad hoc seine Neutralität erklären, das heißt, wenn ein Krieg ausbricht, kann man als Staat sagen, so in diesem Konflikt werden wir als Staat keine Rolle spielen, in diesen Konflikt werden wir uns nicht einmischen.

KÖHLER: Wie lange gibt es dieses Konzept der Neutralität denn schon?

JANIK: Das ist eigentlich ein sehr altes Konzept. Im modernen Sinn verstehen wir und assoziieren wir es natürlich insbesondere mit der Schweiz. Und da ist natürlich ganz zentral 1814, 1815 der Wiener Kongress als historischer Ursprung der Neutralität im modernen Verständnis. Und das erklärt vielleicht auch, warum die Neutralität auch relativ lang schon nicht mehr neu vertraglich geregelt wurde. Die letzten vertraglichen Regelungen stammen aus dem Jahr 1907. Und alles andere was danach passiert ist, ist reine Staatenpraxis. Aber vertraglich neu geregelt hat man sie seitdem nicht mehr. Es ist ein sehr altes Konzept, das gleichzeitig auch nicht mehr in letzter Zeit vertraglich generalüberholt, reformiert, neu gedacht wurde.

GASSNER-SPECKMOSER: Wir haben es eingangs schon erwähnt, aber vielleicht noch einmal genauer: Seit wann ist Österreich denn nun neutral?

JANIK: Österreich ist seit 1955 neutral. Österreich hat damals eben im Neutralitätsgesetz seine immerwährende Neutralität erklärt. Sowohl nach innen als auch nach außen. Also nach innen mit einem eigenen Bundesverfassungsgesetz über die immerwährende Neutralität. Und nach außen, indem man dieses Bundesverfassungsgesetz den anderen Staaten, mit denen Österreich damals diplomatische Beziehungen geführt hat, aktiv kommuniziert hat. Das heißt, die anderen Staaten haben das zur Kenntnis genommen, haben das gesehen, haben auch darauf geantwortet großteils und haben gesagt: Gut, wir verstehen, ihr seid in Zukunft neutral. Und das war ja auch historisch, man kann es nicht oft genug sagen. Die Bedingung für die österreichische Unabhängigkeit Das heißt für den Abzug der Alliierten. Sie ist aber völkerrechtlich nicht in einem Vertrag festgelegt. Das heißt, die zwei mit der Stadt Moskau assoziierten Dokumente, Erklärungen, die man da nennen muss, die werden auch gerne verwechselt. Also es gibt die Moskauer Erklärung von 1943, wo man festgehalten hat, dass Österreich eben quasi Opfer war. Das ist natürlich ein sehr umstrittenes Thema, das wir da jetzt nicht näher behandeln. Aber das hat natürlich dazu geführt, dass man hier gesagt hat, Österreich ist nicht - rein rechtlich gesehen - sagen wir ein Bündnispartner von Deutschland geworden, das ist natürlich höchst umstritten und aus heutiger Sicht eindeutig in der Form, in dieser vereinfachten Form widerlegt. Und dann gibt es das Moskauer Memorandum von 1955, auch kein Vertrag. Aber da haben die Alliierten sich darauf geeinigt zu sagen, gut wir werden Österreich offiziell weder dem Sowjetischen Bereich zurechnen noch dem sogenannten Westen. Sondern Österreich soll gewissermaßen da zwischen diesen beiden großen Machtblöcken stehen als neutraler Staat. Und das ganz entscheidende dabei ist natürlich, wie ich angemerkt habe, im Zusammenhang mit der Definition von Neutralität, dass dann beispielsweise keine Truppen, keine sowjetischen Truppen durch österreichisches Gebiet fahren dürfen und natürlich auch keine westlichen Truppen, keine NATO-Truppen durch österreichisches Gebiet verlegt werden dürfen. Das heißt, man hat hier sozusagen eine neutrale Zone, oder jetzt war vor kurzem der erste Schultag, wenn man da ans Fangenspielen denkt, eine Art "Leo".

KÖHLER: Gibt es Ausnahmen von dem Versprechen der Neutralität?

JANIK: Ausnahmen gibt es in diesem Sinne nicht. Was man aber bemerken kann ist, dass in den letzten Jahrzehnten die Neutralität durch die Zeit gewissermaßen überholt wurde. Das heißt, sie wird von Österreich, vom österreichischen Außenministerium sehr eng interpretiert. Nicht eng, weil sie jetzt so eng wäre, sondern einfach, weil die Konflikte sich geändert haben. Das heißt, das österreichische Außenministerium und damit auch die österreichische Regierung, oder Österreich nach außen, geht davon aus, dass Neutralität bedeutet, dass man nur in zwischenstaatlichen Kriegen neutral sein muss. Die sind mittlerweile aber die absolute Ausnahme geworden. Die allermeisten Konflikte finden ja innerhalb von Staaten statt, viele haben auch terroristischen Charakter. Und der Bundeskanzler(*) hat beispielsweise damals noch als Außenminister im Zusammenhang mit dem Kampf gegen den islamischen Staat erklärt, dass es keine Neutralität bei Terrorismus geben kann. Das heißt, das ist ein Aspekt dabei, dass die Neutralität gar nicht so oft zur Anwendung kommt, weil es einfach kaum Kriege zwischen Staaten gibt. Beispielsweise im letzten Jahr hat das Seilberger Institut für Konfliktforschung festgehalten in seinem Bericht - sie geben jährlich einen Bericht heraus - dass es nur einen einzigen zwischenstaatlichen Krieg gegeben hat, nämlich zwischen Aserbaidschan und Armenien. Und alle anderen Konflikte waren vielleicht Stellvertreterkriege, wo sich Staaten zwar eingemischt haben, aber Staaten nicht direkt miteinander gekämpft haben, oder klassische Bürgerkriege, oder Kriege zwischen Regierungen und Aufständischen, aber keine Kriege, wie wir sie erzählen historisch mit dem Bild des Ersten oder Zweiten Weltkrieges. Und deshalb spielt die Neutralität heute keine so große Rolle mehr. Das sind dann insofern keine Ausnahmen, sondern das ist einfach ein Resultat dessen, dass die Neutralität gewissermaßen von der Zeit überholt wurde.

GASSNER-SPECKMOSER: Könnte Österreich eigentlich theoretisch seine Truppen in den Krieg schicken?

JANIK: Das kommt drauf an, in welchem Zusammenhang. Also natürlich, wenn es beispielsweise nur eine UN-Sicherheitsratsresolution gibt, die die Gewaltanwendung eigens autorisiert im Rahmen von Kapitel 7 bzw. genau genommen von Artikel 42 der UNO-Charta, dann wäre das theoretisch möglich, weil wir das nicht als Krieg bezeichnen, sondern man hat dann andere Begriffe gewählt. Wie zum Beispiel internationale Polizeiaktion. Aber in der Praxis spielt das insofern keine Rolle, da Österreich sich trotzdem auch in solchen Fällen üblicherweise nicht an Kampfhandlungen beteiligt. Unsere Beteiligung ist beispielsweise sehr aktiv in UN-Friedensmissionen. Österreich hat ja sehr viele Blauhelme im Ausland, vor allem wenn man es auf die Gesamtbevölkerung rechnet, beispielsweise mehr als Deutschland, was viele dann überrascht, weil wir doch ein kleines Land sind. Aber das liegt auch einfach daran, dass wir strategische Interessen haben, in Bosnien-Herzegowina beispielsweise, oder dass Kosovo für uns natürlich von ganz entscheidender auch strategischer und natürlich auch humanitärer und politischer Bedeutung ist. Und da gehen wir beispielsweise davon aus, das ist auch schon lange etabliert und wird nicht hinterfragt, dass eine UN-Friedensmission kein Krieg ist und deswegen auch nicht von der Neutralität berührt wird. Vor allem weil ja natürlich auch bei einer UN-Friedensmission eine Grundvoraussetzung ist, dass die jeweilige Regierung dem zustimmt. Also der Präsenz fremder Truppen auf ihrem Gebiet zustimmt. Bzw. in zwischenstaatlichen Konflikten, die durch solche UN-Friedensmissionen beruhigt werden sollen, indem man eine sogenannte Pufferzone errichtet, das Einverständnis von beiden Konfliktparteien vorliegt. Und insofern kein Krieg, sondern eben mit Einverständnis der Konfliktparteien und dann auch noch dem Segen des UNO-Sicherheitsrats.

KÖHLER: Was ist denn nun der "Default State" von Staaten, also welchen Status haben sie, wenn sie nicht neutral sind?

JANIK: Ja, also die überwiegende Mehrheit der Staaten ist nicht neutral, was aber jetzt auch nicht bedeutet, dass sie sich in jeden Krieg automatisch einmischen, eben wie gesagt, sie können sich ja auch ad hoc für neutral erklären in einem bewaffneten Konflikt. Aber viele Staaten sind dann natürlich auch Mitglieder von Militärbündnissen, was Österreich ja auch nicht erlaubt ist. Das heißt, entweder ein Militärbündnis mit entweder nur einem anderen Staat oder überhaupt Militärbündnisse mit zahlreichen weiteren Staaten, also der Warschauer Pakt als historisches Beispiel, den es heute nicht mehr gibt. Oder eben die NATO als das, vermutlich oder ziemlich sicher bekannteste Beispiel einer Militärallianz. Und das wäre auch so ein klarer Anwendungsfall, was von der Neutralität verboten ist. Also ein Beitritt zur NATO wäre für Österreich nicht möglich aufgrund seiner Neutralitätsverpflichtung nach innen und nach außen 

GASSNER-SPECKMOSER: Hat die Neutralität Folgen für Österreich, die bis heute spürbar sind? In Europa herrscht ja zum Glück schon länger größtenteils Frieden.

JANIK: Ja, es wirkt bis heute nach, also Österreich beispielsweise betont ja sehr gerne seine Vermittlerrolle. Einerseits als Standort der Vereinten Nationen. Und andererseits eben auch, indem man nach wie vor betonen kann, wir sind ja eigentlich neutral. Das heißt, wenn man jetzt beispielsweise... viele bemühen ja Vergleiche zwischen dem Kalten Krieg und der aktuellen Lage, sagen, es gibt jetzt vielleicht eine Art "kühlen" Krieg, zwischen den USA und China beispielsweise, oder dass Russland sich nach wie vor nicht reduzieren lässt auf eine Rolle als rein geographische Macht. Und da ist natürlich... aus österreichischer Sicht versucht man zu betonen, wir sind ja nach wie vor historisch gewachsen neutral auch als EU-Mitglied und versuchen dann natürlich gerne, die Brückenbauer-Funktion, diese "Bridgebuilder"-Funktion zu betonen, das stößt dann natürlich auch an realpolitische Grenzen, einfach weil sich die Lage geändert hat. Das heißt, sowas wie das berühmte Treffen von Kennedy und Chruschtschow in Wien in den 60er-Jahren, das würde es in der Form, ist schwieriger zu bekommen, und das ist auch nicht mehr dieselbe Art von Intensität wie im Kalten Krieg beispielsweise, aber natürlich immer wieder, wenn es zum Beispiel zu Gipfeltreffen kommt zwischen US-Präsidenten und dem russischen Präsidenten. Dann ist Wien natürlich, oder bringt sich Wien gerne ins Spiel, weil man solche prestigeträchtigen Treffen natürlich gerne auch unter anderem vielleicht auch als Werbung, aber natürlich auch wegen der symbolischen Bedeutung gerne in Wien abhalten würde.

KÖHLER: Darf Österreich außenpolitisch mitreden, obwohl es doch eigentlich "neutral" sein sollte?

JANIK: Das ist eine ganz, ganz wichtige Frage, weil man muss unterscheiden zwischen der politischen Neutralität und der rechtlichen Neutralität. Rechtlich gibt es eben diesen Kern, keine fremden Militärbasen auf dem eigenen Gebiet, kein Beitritt zu einer fremden Militärallianz und auch sonst keine Unterstützung für Konfliktparteien in Kriegen. Politisch sieht die Sache gänzlich anders aus. Das heißt, man kann sich sowohl Sanktionen anschließen, die im Rahmen der Europäischen Union verhängt werden. Da gibt es aus neutralitäts-rechtlicher Sicht keine Bedenken. Und man kann sich in solche Konflikte auch insofern einmischen, in dem man sich politisch zu Wort meldet. Erst vor Kurzem ein interessanter Anschauungsfall war ja das Hissen der Flagge auf dem Außenamt und auf dem Bundeskanzleramt der israelischen Flagge im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen. Da haben auch eine Reihe von Botschaftern protestiert aus arabischen bzw. muslimischen Ländern. Gleichzeitig muss man dann appelieren vielleicht kann man das politisch durchaus argumentieren, aber rechtlich spricht dagegen nichts. Also so politisch heikel es auch sein mag, rechtlich ist es überhaupt kein Problem, in einem Konflikt, in einem vor allem nicht internationalen bewaffneten Konflikt. Der Konflikt zwischen Israel und der Hamas ist ja auch etwas, das sich sehr schwerer qualifizieren lässt, und es ist jedenfalls kein Krieg und in dem Sinne spricht auch aus rechtlicher Sicht nichts dagegen, hier Flagge zu zeigen im wahrsten Sinne des Wortes. Politisch kann man das natürlich diskutieren.

GASSNER-SPECKMOSER: Kann Österreich seine Neutralität eigentlich auch wieder ablegen?

JANIK: Es wäre ja theoretisch möglich. Also es braucht dafür eigentlich nur, weil eben das Neutralitätsgesetz ist ein Bundesverfassungsgesetz, dafür bräuchte es die Zweidrittelmehrheit im Nationalrat, um die Verfassung zum Teil zu ändern, sie ist ja damit auch Teil der Verfassung. Manche argumentieren, dass eine Aufgabe der Neutralität auch eine Gesamtänderung der Bundesverfassung wäre, das ist aber eine Mindermeinung und es wäre insofern auch nicht einmal notwendig, eine Volksabstimmung durchzuführen. Wenn man jetzt beispielsweise denkt, das Referendum zum EU-Beitritt, da ist man zum Schluss gekommen, das führt zu einer Gesamtänderung der Bundesverfassung. Im Zusammenhang mit der Neutralität, so wichtig sie auch vielen Menschen ist, und sie hat auch eine ganz zentrale Rolle bei der österreichischen Identität, im Selbstverständnis Österreichs, aber aus rein formal verfassungsrechtlicher Sicht bräuchte es hier kein verpflichtendes Referendum. Es wäre aber politisch höchst ratsam, eben weil dieses Thema so dermaßen umstritten ist. Es gibt aber aktuell keine mir bekannten Vorstöße, die Neutralität abzuschaffen. Der Letzte, wo ich mich erinnern kann, war damals noch unter Bundeskanzler Schüssel nach den Angriffen von 9/11 wo er damals erstmals - oder nicht erstmals, es wurde früher auch von der FPÖ immer wieder hinterfragt - aber er hat einen Punkt aufgeworfen, die Welt hat sich verändert, ist es vielleicht auch Zeit, die Neutralität zu überdenken, oder sich vielleicht klar zu bekennen, ein klares Bekenntnis in die ein oder andere Richtung, eben zum Westen abzugeben und damit auch die Neutralität aufzugeben.

KÖHLER: Kann Österreich einem anderen Land militärischen Beistand leisten?

JANIK: Wenn es eine Autorisierung des Sicherheitsrates, also eine Ebene darüber, gäbe, dann kann man das durchaus argumentieren, weil man dann eben sagt, das ist kein Krieg. Ohne einer solche Autorisierung des Sicherheitsrates ist das in der Form nicht möglich. Aber sogar weniger wegen der Neutralität, sondern wegen einem noch viel simpleren Grund: Artikel 2 Absatz 4 der UNO-Charta, der das Gewaltverbot regelt. Und allein deswegen, und da ist es eben unabhängig ob man ein neutraler Staat ist oder nicht, kann man nicht ohne eine Autorisierung des Sicherheitsrates, oder wenn es sich um einen Fall von Selbstverteidigung handelt, in einem anderen Staat militärisch eingreifen. Und insofern ist das sogar eine Frage, die öfters auftaucht, man denkt da reflexartig an die Neutralität, aber es gibt da einen viel allgemeineren Grund, und das ist eben wie gesagt das allgemeine Gewaltverbot mit seinen zwei Ausnahmen. Die eine habe ich schon genannt, UN-Sicherheitsresolution die Gewalt genehmigt, oder eben ein Fall von Selbstverteidigung.

GASSNER-SPECKMOSER: Sollte Österreich seine Neutralität ablegen wollen, müsste es das dann mit den anderen Staaten "besprechen"?

JANIK: Das ist eine durchaus interessante und auch zumindest in der Theorie umstrittene Frage, weil wir unsere Neutralität auch gegenüber anderen Staaten kommuniziert haben und wir uns dadurch gewissermaßen selbst verpflichtet haben. Es war, man kann sagen, eine Art Versprechen, das damit verbindlich wurde, bzw. eine einseitige Erklärung, jetzt gibt es natürlich dazu unterschiedliche Lehrmeinungen. Die eine, das ist die, die von der Mehrheit vertreten wird, solange ich es nachvollziehen kann, es ist ja immer die Frage, wer ist die Mehrheit genau, aber meiner Wahrnehmung nach ist die Mehrheit und auch das österreichische Außenministerium, dass man diese einseitige Erklärung jederzeit wieder zurücknehmen kann. Das ist eine Verpflichtung, die wir uns selbst aufgelegt haben, das gilt auch, wenn jetzt ein Krieg akut ausbricht, aber wenn man zu Friedenszeiten beispielsweise sagt, so wir geben jetzt unsere Neutralität auf, die Zeiten haben sich verändert, die Konfliktkonstellationen sind heute gänzlich andere, Neutralität passt nicht mehr in unsere heutige Zeit, wir geben sie auf, haben andere Staaten da nichts mitzureden. Die Gegenansicht ist natürlich die - und das hat man beispielsweise zumindest in Ansätzen gemerkt in Zusammenhang mit den EU-Beitrittsverhandlungen und den ersten Bestrebungen der EU beizutreten. Da ist beispielsweise die Sorge, dass Russland sagt, naja rein historisch gewachsen aufgrund des Moskauer Memorandums und dem Hintergrund des Entstehens der Neutralität hat Russland als "Fortsetzerstaat" der Sowjetunion, also nicht komplett identisch mit der Sowjetunion, aber eben, weil es gewissermaßen die Sowjetunion fortgesetzt hat, hat einen historisch gewachsene Anspruch darauf zu sagen, ihr könnt nicht einfach so eure Neutralität aufgeben. Da hat sich mit der EU und mit dem EU-Beitritt die Frage gestellt, aber es hat dann einfach aufgrund des Endes des Kalten Krieges und der Auflösung der Sowjetunion hatte Russland bzw. die Sowjetunion damals andere Probleme, es war damals kein ganz virulentes Problem mehr. Aber es könnte durchaus möglich sein, wenn Österreich jetzt Bestrebungen hat, der NATO beizutreten, dass Russland dann auf den Tisch haut und sagt "Moment mal, Österreich hat historisch seine immerwährende Neutralität erklärt und auch uns gegenüber versprochen".

KÖHLER: Die österreichische Innenpolitik hat schon öfters laut überlegt, ob man die Neutralität nicht doch ablegen sollte.

JANIK: Es war eine Art Vorstoß, aber es war nicht so, dass man jetzt beispielsweise, dass es in ein so weites Stadium gegangen wäre, das politisch derart auf dem Tablett serviert worden wäre, vor allem in Oppositionsparteien, dass die hier entsprechend Stimmung gemacht hätten. Aber man kann davon ausgehen, jedes Mal, wenn jetzt auch nur ein bisschen zaghaft in diese Richtung argumentiert wird, oder auch im Zusammenhang mit dem Hissen der israelischen Flagge, da merkt man natürlich schon, dass vor allem Oppositionsparteien das Thema sehr schnell aufgreifen und es einfach ein Thema ist, das bei der Bevölkerung so tief verankert ist, dass es enorm emotionalisiert. Und dementsprechend gehe ich davon aus, dass es da auch zu einer sehr hitzigen Debatte führen würde, und ich frage mich, ob eine Partei das im Moment angreifen will und überhaupt die Notwendigkeit dafür sieht, weil eben aufgrund dessen, dass die Neutralität so stark reduziert wurde, sie in der Praxis Österreich ja gar nicht so stark einschränkt, wie man das auf den ersten Blick glauben mag.

GASSNER-SPECKMOSER: Was hält uns denn als Land davon ab, unsere Neutralität abzulegen?

JANIK: Ja, also die Neutralitätsverpflichtung hat ja auch Vorteile, und einer der Vorteile ist ja der, das ist ja der Kern der Neutralitätsverpflichtung, auch zu sagen, wir wollen nichts mit anderen Kriegen zu tun haben und dementsprechend aber auch kein Angriffsziel sein. Das heißt, wenn man jetzt beispielsweise wieder denkt an den Ersten Weltkrieg und die deutsche Strategie im Ersten Weltkrieg, da einfach zu sagen, gut, man marschiert durch belgisches Gebiet, weil das einfach ein direkterer Weg ist. Das heißt, Österreich ist gewissermaßen doppelt geschützt: Einerseits als neutraler Staat, dass man sagt, gut, das ist das "Leo", das wird von keinem anderen Staat angegriffen und natürlich dann, wie bei allen anderen Staaten auch, durch das Gewaltverbot. Und das kann praktisch dann doch einige Bedeutung erlangen. Ich erinnere an zwei Konflikte, wo das eine Rolle gespielt hat: Einerseits der Kosovo-Konflikt beziehungsweise die Militärintervention der NATO im Kosovokrieg, wo dann eben Österreich mehrere Verletzungen des Luftraums festgestellt hat, und das hat man zwar als militärische Intervention bezeichnet, aber rein rechtlich war es am Ende des Tages ein zwischenstaatlicher Krieg, weil eben NATO-Flugzeuge gegen ein anderes Land Angriffe ausgeführt haben. Der Hintergrund war natürlich ein humanitärer, das war auch die offiziell betonte Rechtfertigung dafür, aber rein auf das simpelste Formalrechtliche heruntergebrochen war es natürlich ein zwischenstaatlicher Krieg. Und dementsprechend konnte Österreich auch nicht seinen Luftraum zur Verfügung stellen. Also Truppenverlegung heißt ja nicht nur über Staatsgebiet, sondern auch über den Luftraum, der ja auch zum Staatsgebiet gehört, und dass man den Luftraum dann eben nicht für Luftangriffe oder eben auch simple Truppenverlegungen zur Verfügung stellen darf, in einem Krieg. Und der andere Konflikt, wo die Neutralität und eben dieser Schutz eine Rolle gespielt hat, war der Irak-Krieg. Und da haben wir, das ist so eine geschichtliche Randnotiz, aber da haben wir die USA insofern verärgert, die damalige Bush-Administration und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, der sich damals wirklich beschwert hat über Österreich, weil wir keine Truppenverlegungen über österreichisches Gebiet zugelassen haben. Das haben die USA auch respektiert, und dadurch hat sich der Irak-Krieg, also haben sich ein paar Truppenverlegungen doch um einiges verzögert, weil man sie eben um Österreich herum verlegen musste. Weil wenn wir das zugelassen hätten, hätten wir unsere eigene Neutralität verletzt, weil sie ja im Zusammenhang mit dem Angriff auf den Irak 2003 stattgefunden haben, diese Truppenverlegungen.

KÖHLER: Und was spräche dafür, die Neutralität abzulegen?

JANIK: Ja, das Hauptargument wäre natürlich, dass man gerade in solchen Zeiten von sich neu-formierenden Machtblöcken - also, wenn wir uns jetzt wirklich auf militärischer Ebene zumindest umsehen - wir die zwei alten Machtblöcke haben, USA und Russland, und dann natürlich als neu entstandenen, China, dass man damit natürlich klar Farbe bekennt. Wenn man jetzt wirklich davon ausgehen würde, dass die Bedrohung auch eine manifeste wird in einem klassischen Krieg, dann ist es natürlich ein Unterschied, ob man eindeutig in einem Lager steht oder nicht, also allein von der Symbolwirkung. Wenn man jetzt die Diskussionen in der Ukraine verfolgt, die ja angegriffen wurde, im "klassischen Sinne", und wirklich einen Teil ihres Staatsgebietes auch verloren hat: Die Ukraine wäre sehr gerne NATO-Mitglied gewesen, weil die NATO ja in Artikel 5 vom NATO-Vertrag ja vorsieht, dass man eben eine Beistandspflicht hat, wenn ein NATO-Mitglied angegriffen wird, ist das wie ein Angriff gegenüber allen NATO-Mitgliedern. Das heißt, das ist natürlich auch ein Signal gegenüber anderen Staaten, dass man ganz viele Freunde hat, die zur Not - kann man sich vielleicht vorstellen wie in einer Gang, aber in positivem Sinne - wenn ein Mitglied angegriffen wird, dass dann die anderen Mitglieder dem Mitglied zur Hilfe eilen. Das ist aber jetzt auf der symbolischen Ebene, aber andererseits auf der rein theoretischen Ebene, wenn es jetzt wirklich ein akutes Bedrohungsszenario für Österreich gäbe, dass unser Gebiet angegriffen wird oder man zumindest durch unser Gebiet marschiert, um andere Staaten anzugreifen, aber das ist, wenn man sich auch Analysen des Bundesheeres ansieht, für aktuelle Konfliktszenarien, Bedrohungsszenarien, eines der eher Unwahrscheinlicheren. Und das ist auch im Zusammenhang mit der Krim-Annexion im Moment der absolute Ausnahmefall, aber es zeigt, dass das durchaus manchmal vorkommt. Insofern wäre es auf einer politischen und symbolhaften Ebene, natürlich könnte man sagen, wenn man jetzt in dieses Lagerdenken verfällt - und es gibt natürlich ein gewisses Lagerdenken in den internationalen Beziehungen - durchaus von Vorteil, wenn man sich klar zu einer Seite bekennt. Und es vereinfacht natürlich doch auch die Zusammenarbeit mit der NATO, weil man dann nicht mehr nur als außenstehender Partner dabei ist, sondern eben als genuines Mitglied.

GASSNER-SPECKMOSER: Ihrer persönlichen Einschätzung nach: Müsste die österreichische Neutralität also reformiert werden? Oder gar abgeschafft?

JANIK: Ich habe das Gefühl, dass das ein Thema ist, das gewissermaßen da gemütlich auf der Diskussions-Couch sitzt, das heißt, wir haben da einen parteiübergreifenden Konsens über weite Strecken. Auch die Praktiker sagen, sie ist jetzt in ihrer täglichen Arbeit, die ja vor allem im Rahmen der EU stattfindet, kein so großes Problem. Es gibt Zusammenarbeit, es gibt die Möglichkeit zu viel Zusammenarbeit in Sicherheitsbereichen mit anderen Staaten. Wir sind ja selbst Teil der "Partnership for Peace" in Zusammenhang mit der NATO. Es gibt jetzt keine unmittelbare Notwendigkeit, der NATO beizutreten, beispielsweise, weil auch die Bedrohungsszenarien sich so verändert haben, dass dieser klassische bewaffnete Angriff nicht im Raum steht, beziehungsweise Österreich davon bedroht wäre. Sondern das sind ja jetzt ganz andere Konflikt- und Bedrohungsszenarien, also da denkt man an Cyber Warfare, an Angriffe auf die Cyber-Infrastruktur von Staaten, da denkt man an hybride Kriegsführung, wo man nicht ganz weiß, ist das jetzt schon Krieg oder ist das noch auf einer niederschwelligen Ebene, da denkt man an Desinformations-Kampagnen. Und in dem Zusammenhang ist die Neutralität einerseits auch nicht so ein starker Schutzschild, andererseits aber auch nicht im Weg, wenn man da mit anderen Staaten zusammenarbeitet. Es ist auch so, dass natürlich dadurch, dass es so wenige neutrale Staaten gibt, oder genuin neutrale Staaten gibt, man sich ja ohnehin gewissermaßen das eigene Recht selbst schafft, kann man vielleicht sagen. Ich habe mal mit dem Thomas Desch im Verteidigungsministerium sehr lange und sehr interessant diskutiert, über das Neutralitäts-Verständnis, und einer unserer Schlüsse, die wir gezogen haben, ist, dass Österreich sich gewissermaßen das eigene Recht schafft, weil es ja nur so wenige Staaten gibt, die sich als neutral bzw. immerwährend neutral verstehen. Insofern braucht es auch keine neue rechtliche Kodifikation, einfach weil die geostrategischen Realitäten dazu geführt haben, dass sie keine so große Rolle spielt. Und wenn wir noch ganz kurz zurückkommen auf das Thema Terrorismus: Auch da merkt man ja, dass zwar terroristische Angriffe -und jetzt jähren sich ja zum 20. Mal die Angriffe vom 11. September - und da hat man ja auch gemerkt, dass das Bild vom Krieg, dass ein Staat einen anderen angreift, antiquiert ist. Und eben ein Terrorangriff auch von nichtstaatlichen Akteuren, eben von Terrorgruppen wie damals Al-Kaida, ausgehen kann. Und auch da kann die Neutralität zu einem Problem werden, aber sie wird es typischerweise nicht. Sie kann es erst dann werden, das ist eine Frage, die hätte sich für Österreich in der Theorie in Zusammenhang mit dem Kampf gegen den sogenannten "Islamischen Staat" gestellt, weil man ja immer noch den sogenannten IS angegriffen hat auf syrischem Gebiet, und Syrien nicht das Einverständnis dafür gegeben hat und es auch keine eindeutige Resolution des UNO-Sicherheitsrates gab. Aber weil keine Kampfflugzeuge über österreichisches Gebiet mussten, ist das letztlich eine theoretische Frage geblieben, zeigt aber, dass es doch auch in manchen Konfliktsituationen zu einer praktischen Frage werden kann, das heißt gänzlich irrelevant ist das Thema natürlich nach wie vor nicht. Und dann bleibt ja natürlich auch die politische Neutralität, wie man die versteht, und da hat ja das Hissen der israelischen Flagge gezeigt, dass das ein durchaus äußerst emotionales Thema werden kann, aber wir machen das ohnehin auf so einer, könnte man sagen, "Case-by-Case"-Basis, also eben fallbezogen, und da schnapsen wir uns das auch oft intern aus und für andere Staaten ist es ja sehr oft nicht einmal Thema. Also da sind wir auch weltpolitisch nicht so bedeutsam, dass andere Staaten unsere Neutralität jetzt ganz aktiv einfordern würden oder problematisieren würden.

GASSNER-SPECKMOSER: Die Schweiz wird gerne als Paradebeispiel für einen neutralen Staat hergenommen. Österreich eher selten. Warum?

JANIK: Die Schweiz hat alleine aus historisch gewachsenen Gründen ein robusteres Neutralitätsverständnis, vor allem weil sie ja auch schon länger neutral ist. Und legt auch diese Rolle als Vermittler bzw. als Standort für internationale Organisationen sehr, sehr aktiv. Das heißt, Genf beispielsweise ist, wenn es um den Sitz von internationalen Organisationen geht, noch viel, viel weiter als Wien. Was meine ich mit "weiter"? Es ist einfach der Sitz von viel, viel mehr internationalen Organisationen. Das heißt, hier ist einmal ein anderes historisch gewachsenes stärkeres Neutralitätsverständnis. Man merkt das auch an so - es sind keine Kleinigkeiten, ich hätte jetzt fast Kleinigkeiten gesagt, aber es sind meiner Meinung nach keine Kleinigkeiten - dass die Schweiz einfach sehr, sehr spät den Vereinten Nationen beigetreten ist, 2002. Bei uns... Wir sind da den Vereinten Nationen von Anfang an in der Frühphase der Unabhängigkeit beigetreten, während die Schweiz sehr lange darüber diskutiert hat, inwiefern ist das überhaupt möglich im Zusammenhang mit unserer Neutralität. Wir haben hier also, wie gesagt, ein viel robusteres Neutralitätsverständnis, das sich sowohl rechtlich zeigt als auch natürlich politisch, wenn es darum geht, sich in irgendeiner Form einzumischen und eben auch politisch zu Wort zu melden. Weil natürlich jede politische Stellung sich dann auch auswirken kann auf künftige Friedensverhandlungen, beispielsweise zwischen unterschiedlichen Konfliktparteien. Und das betrifft, das möchte ich auch gesagt haben, enthülle ich dann auch innerstaatliche Konflikte. Also wenn man wahrgenommen wird als einer Seite eher gewogen, macht es das natürlich schwieriger, sich in irgendeiner Form zu beteiligen an Friedensverhandlungen, internationalen nicht bewaffneten Konflikten, die hier eben statistisch gesehen leider mittlerweile... und „leider" sage ich mittlerweile nicht, weil ein Konflikt besser wäre, oder einer schlechter, sondern „leider" weil diese Konflikte nun mal sehr häufig sind, und deswegen ist es da auch entsprechend wichtig, für Staaten zu sagen, wir möchten auch keine Plattform sein für Bürgerkriege oder der technische Begriff ist nicht-international-bewaffnete Konflikte und da ist eben die Schweiz meiner Wahrnehmung nach durchaus zurückhaltender.

KÖHLER: Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, damit sind wir schon fast am Ende unserer Folge angelangt - und damit auch am Ende von Tobias und mir als Moderatoren-Team. Wir übergeben diese spannende Aufgabe an zwei tolle NachfolgerInnen: Stefanie Schermann und Tobias Leschka werden Sie ab der nächsten Folge durch den Podcast führen werden.

GASSNER-SPECKMOSER: Zum Schluss noch wie immer: Wenn Sie Fragen, Anregungen oder Vorschläge für neue Folgen haben, schreiben Sie uns wie immer unter . Damit verabschieden wir beide uns und hoffen, sie schalten auch in zwei Wochen wieder ein. Dann schon mit unseren zwei neuen KollegInnen. Bis dahin: Ciao!

KÖHLER: Tschüss!

***** JINGLE *****

***** ANMERKUNG *****

(*) Die Aufnahme fand am 08.09.2021 statt.