Mit wie vielen jahren wurde natascha kampusch entführt

Panorama Entführung von Natascha Kampusch

Veröffentlicht am 23.08.2016

Mit wie vielen jahren wurde natascha kampusch entführt
Mit wie vielen jahren wurde natascha kampusch entführt

Die Österreicherin Natascha Kampusch während eines Medientermins.

"Bitte helfen Sie mir!" Natascha Kampusch gelingt am 23. August 2006 nach acht Jahren in der Gewalt ihres Entführers die Flucht. Ihr Fall ist einmalig - auch wegen einer großen Vertuschungsaktion.

"Der Fall Natascha Kampusch könnte glücklich zu Ende gegangen sein." Der Chef des österreichischen Bundeskriminalamts Herwig Haidinger ist auf der Pressekonferenz am Abend des 23. August 2006 noch vorsichtig. Verwandte haben die 18-Jährige zwar identifiziert und einen Pass auf den Namen Kampusch hat die junge Frau auch, aber noch fehlt das Ergebnis des DNA-Tests.

Rund sieben Stunden vorher, um 13.04 Uhr, hatte ein Anruf die Polizei in Strasshof bei Wien alarmiert. Eine panische junge Frau war vor der Laube einer Kleingartenkolonie aufgetaucht. "Bitte helfen Sie mir. Rufen Sie die Polizei. Ich werde verfolgt." Natascha Kampusch hatte nach achteinhalb Jahren in der Gewalt ihres Entführers einen günstigen Moment zur Flucht genutzt.

Einer der spektakulärsten Kriminalfälle der Alpenrepublik schien gelöst. Der Entführer, der 44-jährige Nachrichtentechniker Wolfgang Priklopil, warf sich noch am selben Abend vor einen Zug. "Ich bemerkte die Bewegung von etwas Hellem. (...) Dieser helle Schatten legte sich in den Gleiskörper", gab der Lokführer der S-Bahn kurz darauf zu Protokoll. Eine Aussage von großer Bedeutung, denn bis heute halten sich Theorien, dass Priklopil von einem immer noch unbekannten Co-Entführer ermordet und als Leiche auf die Gleise gelegt worden sei.

Doch dieser 23. August ist nicht das Ende der Geschichte. Der Tag sei der Beginn einer großen Vertuschungsaktion gewesen, sagt der Sicherheitssprecher der österreichischen Grünen, Peter Pilz.

Mit Zugang zu den Akten - insgesamt umfassen sie 270 000 Seiten - hat er schon vor einigen Jahren ein Dossier zusammengestellt, das einen dunklen Schatten auf Polizei und Politik wirft. "Der Fall ist ein Beispiel für ganz überraschend schlechte Ermittlungen. Das war schlicht und einfach Pfusch, was am Anfang passiert ist. Ich war selbst überrascht, wie dilettantisch die Kriminalpolizisten vorgehen, wie schlecht Spuren nachgegangen worden ist", sagt Pilz.

Diese Fehler seien unmittelbar nach der Flucht von Kampusch im Innenministerium schnell erkannt worden. Wenige Wochen vor der Parlamentswahl im Herbst 2006 habe die konservative ÖVP eine "Pannen-Debatte" um jeden Preis vermeiden wollen. "Dann hat es (...) eine Panikreaktion gegeben: "Um Gottes willen, das Versagen der Polizei könnte uns bei der Wahl schaden", meint Pilz.

Mindestens drei grobe Pannen sind den Fahndern in den ersten Wochen nach der Entführung im März 1998 unterlaufen: So sagen bis zum 1. April insgesamt drei Zeugen, dass die damals zehnjährige Natascha in einen weißen Kastenwagen gezerrt wurde oder dass sich so ein Fahrzeug in Tatortnähe befand. Am 6. April wird tatsächlich der weiße Kastenwagen von Priklopil überprüft, aber nichts Verdächtiges gefunden. Am 14. April gibt ein Wiener Polizei-Diensthundeführer, der Priklopil vage kennt, den ermittelnden Kollegen telefonisch wichtige Hinweise: Priklopil sei ein "Eigenbrötler", der in einem voll elektronisch abgesicherten Haus wohne, er habe einen sexuell motivierten "Hang zu Kindern".

Ein Täter-Profil par excellence, geliefert von einem Polizisten - doch die Kollegen ignorieren alles. Natascha Kampusch hätte möglicherweise schon sechs Wochen nach ihrer Entführung wieder frei sein können. Eine spätere Kommission unter Vorsitz des damaligen Chefs des deutschen Bundeskriminalamts, Jörg Ziercke, prangerte - wie andere Kommissionen vor ihr - ebenfalls die Fehler der Ermittler an. Die Hinweise in den ersten Wochen seien oft die wertvollsten. Auch wenn man sie zunächst nicht richtig einordnen könne, sei es wichtig, sie nach einiger Zeit neu zu bewerten. "Das ist hier nicht geschehen", sagte Ziercke 2013.

Von diesen Pannen darf im Herbst 2006 - so die Nachforschungen von Pilz - niemand wissen. So sei der Diensthundeführer bedrängt worden, gegenüber der Öffentlichkeit nicht zu erzählen, dass er schon vor acht Jahren auf Priklopil getippt habe. BKA-Chef Haidinger fallen die damaligen Fehler auf - und er geht ihnen nach. 2008 wird er seines Amtes enthoben - "weil ich mich nicht korrumpieren ließ", bemerkte er damals. Eine vom österreichischen Innenministerium eingesetzte Kommission kommt zu einem gegenteiligen Schluss. "Es besteht kein Grund für die Annahme, dass in rechtswidriger Weise Fehler bei der Polizeiarbeit unterdrückt werden sollten." Ebenso wenig bestehe Grund zur Annahme, dass ein "Hinausschieben" einer Untersuchung im Hinblick auf die Wahlen zum Nationalrat im Oktober 2006 stattgefunden habe.

Doch die Ermittlungsfehler sind unbestritten und hatten bittere Folgen: Die zehnjährige Natascha sitzt 1998 in einem knapp fünf Quadratmeter kleinen, fensterlosen Verlies, das ihr Peiniger mit einer dicken Stahltür nach außen abgesichert hat. Das Haus in Strasshof betreten in den kommenden acht Jahren wohl nur die Mutter des Täters und dessen einziger Freund. Beide bestreiten, Natascha je als Gefangene bemerkt zu haben.

Tatsächlich lässt Priklopil seinem Opfer, das er zu einer Frau ganz nach seinen Vorstellungen formen will, nach und nach mehr Freiraum. Das Mädchen übernimmt Putz- und Küchendienste, darf die anderen Stockwerke des Hauses betreten. Immer wieder wird sie aber auch tagelang in ihr Verlies gesperrt. Als Jugendliche kettet Priklopil Natascha mit Handschellen an sich und missbraucht sie sexuell.Noch schwerwiegender seien die ständigen gewalttätigen Ausbrüche ihres Peinigers gewesen, wie sie in ihrem Tagebuch schreibt: "Mehrmals auf mich eingeprügelt, schwarze Blutergüsse unterhalb der Schulterblätter und entlang des Rückgrats. Schlag auf mein rechtes Ohr, alles nur noch ein Stechen und Knacksen. Dann schlug er weiter auf meinen Kopf ein."

Im Februar 2006 wird Natascha 18 Jahre alt. In den folgenden Monaten wird sie erstmals von Nachbarn öfter gesehen - im Garten, im Auto, beim Bäcker, im Baumarkt. "Alle dachten, der hat jetzt eine Freundin", sagt eine 71-jährige Nachbarin. Aber bei den wenigen Kontakten habe Priklopil die junge Frau als Haushaltshilfe seines Freundes vorgestellt. Angesichts dieser für Natascha neuen Lebensumstände ist sich die Frau aus der Nachbarschaft sicher: "Sie hat schon vorher Möglichkeiten zur Flucht gehabt." Priklopil hatte Kampusch nach ihrer Aussage aber eingeschüchtert, in diesem Fall sie und alle anderen Beteiligten umzubringen.

Die 71-jährige Nachbarin ist eine der ganz wenigen aus der Nähe des Wohnhauses des Täters, die sich zum Fall Kampusch äußert. Hier will kaum einer reden über "die Kampusch", die in Österreich nicht nur als Opfer gesehen wird. Immer wieder wird sie auch kritisiert, als eine, die mit ihrem Schicksal Geld verdient, nun gar das Haus ihres Entführers (teils zugesprochen vom Staat, teils von der Mutter gekauft) besitzt.

Sie wollte nicht, dass das Haus in falsche Hände gerät. "Ich hätte es nicht ertragen, wenn dieser Ort zu einem Gruselkabinett umfunktioniert worden oder zu einem Wallfahrtsort für seltsame Menschen geworden wäre, die insgeheim eine Bewunderung für den Täter und seine Tat hegen", schreibt Kampusch in ihrem neuen Buch "Natascha Kampusch: 10 Jahre Freiheit" (List-Verlag).

Kampusch will ihr Leben nun wieder selbst in die Hand nehmen und Projekte verwirklichen. "Demnächst kommt eine Schmuck-Kollektion auf den Markt. Ich muss nur schauen, in welchen Dimensionen sich das bewegt", so Kampusch. Dem Täter hat sie zwischenzeitlich vergeben - auch um sich selbst vom Ballast der Vergangenheit zu befreien.

Pilz hat den Fall mit Blick nach vorne aufgearbeitet. "Eines unserer Grundanliegen war, dass sich Eltern in Zukunft darauf verlassen können, dass im Fall einer Entführung die Polizei mit höchstem Einsatz und mit höchster Qualifikation versucht zu ermitteln und das Kind zu befreien." Dass Fehler keinerlei Folgen hätten wie im Fall Kampusch, sei "ein verheerendes Signal an die Beamten". Wer schlampig ermittle oder bewusst vertusche, werde wieder davonkommen, fürchtet er.

Das gelbe Wohnhaus nahe der Kleingartensiedlung in Strasshof an der Nordbahn ist unscheinbar. Nur die üppige Hecke wächst schon durch den Zaun bis auf die Straße hinaus. Das heute unbewohnte Haus gehört Natascha Kampusch. Es wurde ihr zugesprochen, nachdem sie sich vor 15 Jahren aus den Fängen ihres Entführers Wolfgang Priklopil befreien konnte. Er hatte sie 1998 am Schulweg in Wien entführt und acht Jahre lang in einem Kellerverlies seines Hauses in Strasshof gefangen gehalten. Später musste sie für ihn auch Hausarbeiten erledigen. Beim Autoputzen gelang ihr schließlich in einem unbemerkten Moment die Flucht.

Mit wie vielen jahren wurde natascha kampusch entführt
ORF/Henninger In diesem Haus wurde Natascha Kampusch acht Jahre lang gefangen gehalten

Der Seniorchef der örtlichen Bäckerei, Alfred Geier, erinnert sich im Gespräch mit noe.ORF.at: „Genau an diesem Tag, am 23. August, als die ersten Meldungen gekommen sind, war der Ort in einer Art Schockstarre. Es wurde alles abgesperrt, Hubschrauber sind über den Ort geflogen, weil man Wolfgang Priklopil gesucht hat. Alle Lokale waren genauso wie unser Lokal menschenleer.“ Doch schon wenige Stunden später war es mit der Ruhe vorbei, sagt Geier. „Schlagartig mit dem nächsten Tag waren dann Journalisten aus der ganzen Welt in Strasshof. Auf einmal waren wir für eine Woche der Mittelpunkt der Welt, kann man sagen. Die Journalisten waren in allen Gasthäusern, die Leute dort sind interviewt worden.“

Strasshof stand im weltweiten Fokus

Bürgermeister Ludwig Deltl (SPÖ), damals Vizebürgermeister, war gerade auf Urlaub. Deltl erfuhr telefonisch von seiner Tochter, dass zu Hause etwas passiert war. „Ich bin dann am diesem Abend von einem Spaziergang im Ausland ins Hotel zurückgekommen, habe den Fernseher aufgedreht und CNN gesehen – und gewusst, was in Strasshof los war.“ Auch er erinnert sich an die unzähligen Journalisten, die dann plötzlich in Strasshof auftauchten. „Für mich waren es dann die kommenden Tage, wo von unterschiedlichsten Medien viele Interviews angefragt worden sind“, so Deltl.

Priklopils Leiche wurde noch am selben Tag auf den Gleisen der Wiener S-Bahn gefunden. Christa Stefan wohnt ganz in der Nähe des Hauses, in dem Natascha Kampusch gefangen gehalten wurde. Sie erinnert sich an den Medienrummel in der Straße. „Es war vorne abgesperrt, wir mussten die Absperrung wegnehmen, wenn wir hinaus wollten. Ich habe damals Nachhilfekinder betreut, die musste ich bei der anderen Tür, über die andere Gasse hereinlassen. Nach ein paar Tagen sind wir geflüchtet, weil die Hubschrauber fast das Dach abgetragen haben“, erzählt Christa Stefan.

Ort des Verbrechens zieht noch immer Schaulustige an

Heute zieht der Ort des Verbrechens immer noch Schaulustige an. Familie Albrecht aus Deutschland ist im Zuge ihres Österreich-Urlaubs nach Strasshof gefahren, denn die Albrechts haben ein spezielles Hobby. Sie besuchen gerne Kriminalschauplätze, erzählt Michael Albrecht. „Wir fahren öfter ehemalige Tatorte ab, da, wo sich etwas ereignet hat. Meistens machen wir das im Urlaub, dann schauen wir, was dort einmal passiert ist, das finden wir schon sehr interessant.“

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ORF/Doris Henninger Familie Albrecht aus Deutschland vor dem Kampusch-Haus in Strasshof

Besonders Michael Albrechts Tochter Pia hat viel über den Fall Kampusch gelesen. Nun wollten ihr die Eltern den Original-Schauplatz zeigen und fuhren mit ihr extra nach Strasshof. „Wir wussten ja, dass sich unsere Tochter ein bisschen für den Fall Natascha Kampusch interessiert. Da haben wir ihr versprochen, dass wir dann einen kleinen Abstecher zum Haus machen, wo Natascha Kampusch gefangen gehalten wurde.“

Und die Albrechts werden wohl nicht die letzten Schaulustigen sein, die hierherkommen. Strasshofs Bürgermeister Ludwig Deltl kann das nicht recht nachvollziehen. „Man fährt mittlerweile an dem Haus vorbei. Es gehört Frau Kampusch und sie betreut es, so wie sie das eben tut. Es ist einfach ein Gebäude, das leer steht. Welche Nutzung hier auch immer vorgesehen ist, ich würde mir ein Wohngebäude wünschen“, sagt Deltl.

Im Ort hat sich in den letzten Jahren vieles getan, dennoch bleibt Strasshof an der Nordbahn untrennbar mit dem Fall Kampusch verbunden. Das merkt auch Alfred Geier immer wieder, wenn er im Urlaub gefragt wird, wo er herkommt. „Wo der Fall Kampusch war – das weiß jeder. Wenn du in Europa irgendwo hinfährst und sagst ‚Strasshof und Kampusch‘ – das ist eigentlich eins.“