Was passierte am 9 November 1938 in Deutschland

Bevor die Gewalt in der Nacht vom 9. und 10. November im gesamten Reichsgebiet explodierte, war es bereits am 7. und 8. November zu antijüdischen Gewalttaten in Fulda, Kassel, Bebra und weiteren Städten gekommen. Die Weisung zu dem Pogrom war schließlich von München ausgegangen, wo sich die Führung der NSDAP zum Gedenken an den fünfzehnten Jahrestag des Hitler-Putsches versammelt hatte, und wurde rasch durch die Parteistrukturen im ganzen Land verbreitet. Als Vorwand des von ihnen als angeblich spontanen Akt des „Volkszorns" deklarierten Terrors nutzten die Nationalsozialisten den Tod des Legationssekretärs an der deutschen Botschaft in Paris, Ernst vom Rath. Vom Rath war am Morgen des 7. November 1938 von dem erst siebzehnjährigen Herschel Grynszpan angeschossen worden. Dessen Eltern zählten zu den etwa 17.000 polnischen Jüdinnen und Juden, die auf Anweisung Heinrich Himmlers an die deutsch-polnische Grenze zwangsabgeschoben worden waren. Vom Rath erlag seinen Verletzungen am Nachmittag des 9. November.

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    Die aufgrund der zerstörten Schaufensterscheiben bald als „Reichskristallnacht" bekannt gewordenen Ausschreitungen waren bis dahin der Höhepunkt eines staatlichen Antisemitismus, der mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 begonnen hatte. Beteiligt waren nicht nur Organisationen und Gliederungen der NSDAP, sondern auch Schulklassen, „einfache“ Nachbarn, Männer und Frauen. Eine Mehrheit der Bevölkerung stand dem Pogrom und vor allem den Zerstörungen ablehnend gegenüber, nicht alle beteiligten sich aktiv, aber auch nur wenige halfen ihren jüdischen Nachbarn.

    Was passierte am 9 November 1938 in Deutschland
    Brennende Synagoge in Essen, 10. November 1938

    Das NS-Regime deklarierte den von der Führung der NSDAP gesteuerten Pogrom als „berechtigte und verständliche Empörung des deutschen Volkes", die nach einer weiteren Ausschaltung von Jüdinnen und Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben rief. Während und unmittelbar in Folge der Ausschreitungen starben weit mehr als 1.300 Menschen, mit mindestens 1.400 wurden über die Hälfte aller Synagogen in Deutschland und Österreich stark beschädigt oder ganz zerstört, mehr als 7.000 Geschäfte geplündert, beschädigt oder komplett demoliert. Über 30.000 Juden wurden in die Konzentrationslager Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald verschleppt.

    Am 12. November, zwei Tage nach den brutalen Ausschreitungen, fanden sich im Reichsluftfahrtministerium etliche Vertreter und Funktionäre, Beamte und Minister des NS-Regimes zu einer Konferenz unter der Leitung von Hermann Göring zusammen. Moniert wurde hier nicht die Gewalt gegen Jüdinnen und Juden in Deutschland, sondern die große Zerstörung von Sachwerten. Den jüdischen Gemeinden wurde eine „Sühneleistung“ in Höhe von einer Milliarde Reichsmark auferlegt, Versicherungsleistungen durften nicht in Anspruch genommen werden, die Beseitigung der Schäden mussten die Betroffenen selbst finanzieren. Diese Maßnahmen sowie zunehmende Entrechtung, Enteignungen und „Zwangsarisierungen" sollten die Jüdinnen und Juden zur Auswanderung zwingen. Eine Möglichkeit, die vielen finanziell oder auch aus Altersgründen nicht mehr offenstand. Darüber hinaus gab es vor allem kaum Länder, die bereit gewesen wären, eine größere Zahl jüdischer Geflüchteter aufzunehmen.

    Am 24. November 1938 skizzierte die SS-Zeitung „Das Schwarze Korps“ im Aufmacher-Artikel auf der ersten Seite unter der Überschrift „Juden, was nun?“ einen Weg der weiteren Ausgrenzung, Kennzeichnung und Verfolgung der Juden und Jüdinnen in Deutschland bis zur Ermordung „mit Feuer und Schwert. Das Ergebnis wäre das tatsächliche und endgültige Ende des Judentums in Deutschland, seine restlose Vernichtung. Wer nun etwa im Ausland meinen sollte, er könnte diese, wie man zugeben wird, logische und unvermeidliche Entwicklung durch weiteres eintöniges Geschrei, durch Drohung und Erpressung aufhalten, beweist nur, daß er seit 1933 nichts hinzugelernt hat.“

    Der 9. November spielt in der deutschen Geschichte mehrfach eine bedeutende Rolle.

    Am 9. November 1918 endete während der revolutionären Vorgänge das deutsche Kaiserreich, am 9. November 1989 fiel die Mauer zwischen beiden deutschen Staaten. Und voller Scham und Trauer bleibt die Erinnerung an den 9. November 1938, als die meisten Synagogen und zahlreiche jüdische Geschäfte und Wohnungen zerstört und Juden verhaftet, bedroht und ermordet wurden.

    Nationalsozialistischer Judenhass

    Antisemitismus gehörte zum wesentlichen Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie. Das Judentum wurde als feindlich und minderwertig diffamiert: Juden vollbrächten keine aufbauende Leistung, sie würden nur zerstören. Juden seien die Drahtzieher von Demokratie, Weltkapitalismus und Marxismus. Ihr Ziel sei die Weltherrschaft, wobei sie sich der verschiedensten Mittel bedienen würden, z. B. der Unterwerfung von Kultur und Presse oder der Anzettelung von Kriegen und Revolutionen. Die Nationalsozialisten verbreiteten ihre heftige antijüdische Propaganda schon in den 1920er Jahren und bereiteten so Hitlers erklärtes Ziel der Vernichtung des europäischen Judentums vor.

    Antijüdische Maßnahmen 1933 bis 1938

    Als erste antijüdische Maßnahme des NS-Regimes kann der Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 angesehen werden. Es folgten weitere Maßnahmen, die die jüdischen Bürger immer mehr entrechteten, wie Beschränkungen beim akademischen Studium und bei der Ausübung bestimmter Berufe, wie Ärzte und Juristen, und die Versetzung von jüdischen Beamten in den Ruhestand. Die zweite Phase der jüdischen Diskriminierung leiteten die „Nürnberger Gesetze“ 1935 ein. Sie entzogen den Juden die rechtliche Gleichstellung mit den nichtjüdischen Deutschen.„Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen und artverwandten Blutes“ waren verboten. Ebenso wurde der Geschlechtsverkehr zwischen Angehörigen der beiden „Rassen“ untersagt und später als „Rassenschande“ mit schweren Strafen - bis zur Todesstrafe – geahndet.Die in den folgenden Jahren erlassenen Durchführungsverordnungen und Gesetze drängte den jüdischen Bevölkerungsanteil immer stärker in eine nicht nur politische, sondern auch juristische und soziale und schließlich allgemein menschliche Isolation. Bis 1938 verließen 130 000 Juden Deutschland, 500 000 blieben noch.

    Die Kieler jüdische Gemeinde

    In Kiel gab es nur eine kleine jüdische Gemeinde mit etwas über 600 Mitgliedern, was 0,3% der Kieler Bevölkerung entsprach. Aber sie verfügte über ein reiches Gemeinde- und Vereinsleben mit Synagoge, Betstuben, Friedhof, Religionsschule, rituellem Bad, Religionslehrern und Rabbiner. Nur die Hälfte der Gemeindemitglieder waren „deutsche Juden“, die schon lange in Deutschland lebten und sich vollständig assimiliert hatten. Zu ihnen gehörten vor allem selbständige Kaufleute, aber auch Ärzte und Rechtsanwälte und unter den Jüngeren Angestellte, Handwerker und Facharbeiter.

    Die andere Hälfte der Juden in Kiel waren „Ostjuden“, die während des Ersten Weltkrieges und danach aus dem Gebiet, das nach Kriegsende zum neu entstandenen polnischen Staat gehörte, nach Deutschland gekommen waren. Sie hatten die polnische Staatsangehörigkeit, auch die Kinder, die in Deutschland geboren wurden. In Glauben, Sitten und Gebräuchen waren die Ostjuden stärker der alten Tradition verhaftet; zumeist waren sie als kleine Kaufleute oder Händler tätig.

    Verzweiflungstat eines jungen Juden

    Am Morgen des 7. November 1938 erschien in der Deutschen Botschaft in Paris der 17-Jährige Jude Herschel Grünspan, der den Botschafter sprechen wollte, aber an den Legationsrat Ernst von Rath verwiesen wurde. Grünspan schoss von Rath nieder, der am Spätnachmittag des 9. November verstarb. Als Motiv für Grünspan gilt das Leiden seiner Eltern und seiner Schwester, die zu den 50 000 in Deutschland lebenden Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit gehörten. Die polnische Regierung beabsichtigte, diese Juden für staatenlos zu erklären, worauf die deutsche Regierung am 27./28. Oktober mit der sofortigen Ausweisung und zwangsweisen Deportation der Betroffenen nach Polen antwortete. Da Polen die Aufnahme verweigerte, mussten die Juden stundenlang im Niemandsland warten, wurden schließlich ins Land gelassen und im Grenzgebiet interniert, bis sich beide Staaten auf einen Abbruch der Aktion einigten.Aus Kiel wurden die polnischen Juden am 29. Oktober ausgewiesen, konnten aber zurückkehren, da inzwischen die Vereinbarung zwischen Polen und Deutschland in Kraft getreten war.

    Schon einen Tag nach dem Pariser Attentat, am 8. November 1938, forderte die „Nordische Rundschau“, dass „das Judentum in Deutschland zur Verantwortung gezogen“ werden müsse. Und am 10. November war in der selben Zeitung und in den „Kieler Neuesten Nachrichten“ zu lesen: „ Die Kunde, dass Gesandtschaftsrat von Rath der feigen Meucheltat des jüdischen Mordbuben in Paris erlegen ist, hat, wie im ganzen Reich, so auch in Kiel spontane judenfeindliche Kundgebungen ausgelöste. Die tiefe Empörung, die das ganze deutsche Volk beseelt, machte sich in antijüdischen Aktionen Luft.“

    Vorbereitung des Pogroms

    Die Behauptung, dass sich die Bevölkerung zu spontanen Aktionen gegen die Juden entschieden habe, ist falsch. Für diese Beteiligung gibt es keinerlei Beweise. Die Aktionen gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland am 9./10. November 1938 waren ein gelenktes Vorgehen, das von SA, SS und Gestapo auf höheren Befehl durchgeführt wurde.Am 9. November fand in München der Jahrestag des missglückten Hitlerputsches von 1923 statt. Fast alle hohen NS-Funktionäre waren hier versammelt, auch Hitler und Goebbels, als die Nachrichte vom Tode von Raths eintraf. Hitler und Goebbels unterhielten sich eine Weile, dann verließ Hitler den Kameradschaftsabend, während Goebbels eine Hetzrede gegen die Juden begann. Es müsse eine Vergeltungsaktion geben angesichts des Todes von Rath. Ohne offen zu einer Verfolgung der Juden aufzurufen, forderte Goebbels aber, spontane Aktionen durch die Bevölkerung nicht zu behindern. Falls diese nicht erfolgten, sollten die Parteiorgane tätig werden, ohne dass dies erkennbar sei.Der schleswig-holsteinische Gauleiter Hinrich Lohse und der SA-Führer der Gruppe Nordmark Joachim Meyer-Quade waren auch in München anwesend, jedoch nicht am Kameradschaftsabend beteiligt. Sie erfuhren von einem Parteimitglied, dass eine Aktion gegen die Juden geplant sei. Meyer-Quade bot daraufhin dem Gauleiter Lohse die Mitwirkung der SA an und telefonierte mit dem Stabsführer der SA-Gruppe Nordmark, Oberführer Volquardsen, in Kiel und teilte ihm Folgendes mit: „Ein Jude hat geschossen. Ein deutscher Diplomat ist tot. In Friedrichstadt, Kiel, Lübeck und anderswo stehen völlig überflüssige Versammlungshäuser. Auch Läden haben diese Leute bei uns noch. Beide sind überflüssig. Es darf nicht geplündert werden. Es dürfen keine Misshandlungen vorkommen. Ausländische Juden dürfen nicht angefasst werden. Bei Widerstand von der Waffe Gebrauch machen. Die Aktion muss in Zivil durchgeführt werden und um 5.00 Uhr beendet sein.“

    Peter Wulf urteilt daher folgerichtig: „Aus dem verschleiernden, aber deutlich auffordernden Aufruf von Goebbels, aus der Möglichkeit einer solchen Aktion, ist in Kiel Befehl und Anweisung geworden, mit denen der ganze Staatsapparat in Gang gesetzt wurde. Die Verfolgung der Juden im November 1938 ist also nicht nach einem langen vorbereiteten Plan durchgeführt worden, sondern aus dem Tode von Raths spontan entwickelt worden und dann von der radikal antisemitischen Fraktion innerhalb der Partei konsequent durchgesetzt worden. Dies schien der Anlass zu sein, die ihrer Ansicht nach stagnierende Judenverfolgung wieder in Bewegung zu setzten.“

    Mit Benzinkanistern zur Synagoge

    Gegen 3 Uhr morgens versammelten sich in Kiel auf dem „Adolf-Hilter-Platz“ (Rathausplatz) SA- und SS-Männer und Parteimitglieder. Wer noch in Uniform war, erhielt im Rathaus zur Tarnung Bürojacken. Dann ging es auf Lastwagen mit Benzinkanistern zur Synagoge in der Goethestraße/ Ecke Humboldtstraße. Im Inneren wurden Tische und Stühle zertrümmert und Scheiben eingeschlagen. Dann wurde mit Benzin und Sprengstoff Feuer gelegt. Der Feuerwehr wurde das Löschen verboten. Erst nach der Detonation wurde der Feuerwehr gestattet, den Brand zu bekämpfen. Im Brandbericht der Feuerwehr stand dann, wider besseres Wissen: „Mutmaßliche Entstehungsursache der Brände durch: unbekannte Ursachen.“

    Plünderungen, Verhaftungen und Mordversuche

    Gleichzeitig mit der Zerstörung der Synagoge wurden zahlreiche jüdische Geschäfte und Wohnungen demoliert. Der Ostjude Mendel Czapnik, der Zeuge der Kieler Vorgänge war, schrieb seine Erlebnisse an die in Palästina lebenden Eltern:„Zu Simcha Winzelberg sind sie gekommen morgens um 4 Uhr, eine Gruppe Leute S.A. und S.S., eingedrungen in die Wohnung, geheißen die Hände hochheben, vorgehalten Revolver vor die Brust vor Simcha und Frau und vor Mondek. Sie mussten die Hände hochhalten, und sie haben sich genommen zu der Arbeit: Sie haben die ganze Wohnung demoliert, zerbrochen, zerhackt, alles, sämtliche Gegenstände ohne Rücksicht, die Spiegel, die Lampen, die Flurgarderobe, die Schränke, das Kristall, die Küchenschränke umgelegt, das Geschirr hinausgetrümmert, auf Splitter zerbrochen, Anzüge, Mäntel zerschnitten und Simcha zusammen mit Mondek mitgenommen nach dem Präsidium. Simcha hat man in die Unterhosen genommen ohne die Oberhose, nur einen Mantel hat er sich angezogen, und Mondek im Schlafanzug mit Pantoffeln. ... Man hat eingeschlagen bei Simcha Winzelberg das Schaufenster vom Geschäft und die Polizei ist gekommen und aufgemacht das Geschäft und ein Wagen ist gekommen von der WHW, d. h. Winter-Hilfswerk und die ganze Ware vom Geschäft beschlaggenommen für die nichtjüdische Winterhilfe. Und dasselbe hat man gemacht bei Bodenstein und bei Josef Locker und bei Hurtig, die Pelze, die Hüte, alles beschlaggenommen für die Winterhilfe. In Gaarden bei Baumgarten haben sie die Kristallfläscher hinausgeschleudert auf die Straße und zertrümmert das Silber, geplündert die Drogerie Haller in Gaarden. Tannenwald hat mehr kein Geschäft, Berghoff auch nicht, Pietsch auch nicht.“Mindestens elf Geschäfte und eine unbekannte Zahl von Wohnungen wurden in dieser Nacht in Kiel demoliert und 58 jüdische Bürger im Alter von 17 bis 72 Jahren verhaftet. Damit war laut Hauschildt-Staff „der auf der SA-Gruppe gefasste Beschluss, alle männlichen reichsdeutschen Juden Kiels zu verhaften, so umfassend und vollständig wie möglich ausgeführt worden.“ Nach Freilassung im Wesentlichen der Ostjuden wurden die übrigen zusammen mit anderen Juden aus Schleswig-Holstein in das KZ Sachsenhausen-Oranienburg gebracht. „Da hat die Hölle angefangen“, erinnerte sich später einer von ihnen. Nach mehreren Wochen wurden sie zurückgeschickt. Zwei Kieler Juden starben nach den Strapazen des Lagers in den ersten Tagen nach der Freilassung.

    Auf zwei prominente Kieler Juden verübte die SA in dieser Nacht gezielte Mordanschläge. Die SA hatte bewusst Paul Leven und Gustav Lask ausgewählt. Beide gehörten zum gehobenen Bürgertum, besaßen eine national-konservative Grundhaltung, waren Inhaber „besserer“ Geschäfte waren und verfügten über gute Kontakte zum höheren Kieler Bürgertum. Lask gehörte außerdem dem Vorstand der jüdischen Gemeinde an und war Vorsitzender der Kieler Ortsgruppe des „Reichsbundes Jüdischer Frontsoldaten“. Paul Leven und Gustav Lask wurden am Morgen des 10. November überfallen, misshandelt, angeschossen und dann sich selbst überlassen. Beide überlebten ihre schweren Schussverletzungen und konnten in der Folgezeit ins Ausland emigrieren.

    Der Novemberpogrom: die „schärfste Zäsur“ in der Geschichte der Juden

    Die Haltung der Kieler Bevölkerung zum Novemberpogrom war unterschiedlich. Sie reichte von Freude über die Ereignisse bis zu Bestürzung, Scham, Sympathiekundgebungen und heimlicher Hilfe. Jedoch „für die Gemeinschaft der Kieler Juden bedeutete der Novemberpogrom die schärfste Zäsur ihrer Geschichte. ... Am Morgen des 10. November lagen die Reste des jüdischen Gemeindelebens in Trümmern“ (Hauschildt-Staff). Die Innenräume der Synagoge waren zerstört, die Bibliothek und alle Kultgegenstände vernichtet oder gestohlen worden. Am 10. November 1938 wurde die Synagoge geschlossen und ihr Betreten verboten. Die Stadtverwaltung erwarb das Grundstück weit unter Wert für die gegenüberliegenden Stadtwerke. 1939 begannen die Abbrucharbeiten an der Synagoge. Die Juden in Kiel hatten damit ihr religiöses, kulturelles und Gemeindezentrum verloren. Gleichzeitig erfolgte die endgültige Ausschaltung der jüdischen Bevölkerung aus dem deutschen Wirtschaftsleben. Durch Verordnungen vom 12. November 1938 wurden den Juden in Deutschland eine Kontribution in Höhe von 1 Milliarde RM auferlegt. Alle Pogromschäden mussten sie auf eigene Kosten beseitigen, während die Versicherungssumme vom Reich beschlagnahmt wurde. Außerdem wurde den jüdischen Bürgern „der Betrieb von Einzelhandelsverkaufsstellen, Versandgeschäften, Bestellkontoren sowie der selbständige Betrieb eines Handwerks untersagt“. Das bedeutet, dass alle bis dahin in jüdischem Besitz befindlichen Geschäfte und Betriebe zwangsarisiert wurden, d. h. in den Besitz „arischer“ Geschäftsleute gelangten. Ein Teil der Kieler Juden versuchte auszuwandern, was etwa der Hälfte bis zu Kriegsbeginn gelang. 239 jüdische Kieler Bürger sind nachweislich Todesopfer des Nationalsozialismus geworden. Die tatsächliche Zahl liegt aber deutlich darüber.

    Gedenken an die Pogromnacht

    Durch die Reichspogromnacht 1938 und die Deportationen seit 1941 wurde die jüdische Gemeinde in Kiel zerstört. 1967/68 ließen die Stadtwerke auf dem ehemaligen Grundstück der Synagoge ein Wohnhaus für ihre Beschäftigten errichten. 1968, zum 30. Jahrestag des Pogroms, wurde am Eingang des Hauses folgende Gedenktafel angebracht: „ Hier stand die Synagoge der jüdischen Gemeinde in Kiel, die in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft durch einen Willkürakt am 9. November 1938 zerstört wurde“.

    Um die Gedenkstätte würdiger zu gestalten, wurde in Übereinstimmung der Stadt Kiel, der Stadtwerke und der Jüdischen Gemeinde Hamburg am 24. Mai 1989 ein Mahnmal vor dem Wohnhaus in der Goethestraße feierlich eingeweiht. In eindrucksvoller Gestaltung wird die Zerstörung der jüdischen Kultur und Gemeinde dargestellt: „Der zerrissene Thoravorhang, der gekippte Tisch und der herabstürzende Chanukka-Leuchter weisen symbolisch auf die Schändung des Heiligtums hin“ (Doris Waschk-Balz, Bildhauerin des Mahnmals). Alljährlich finden am 9. November Gedenkfeiern, ehemals vor der Gedenktafel, jetzt vor dem Mahnmal statt.

    Die neue Kieler jüdische Gemeinde

    1961 lebten in Kiel nur noch 27 Juden, mit abnehmender Tendenz. Dies änderte sich seit 1989 mit dem Zusammenbruch des Ostblocks. Durch Zuwanderung von Juden vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion bildete sich in Kiel wieder eine jüdische Gemeinschaft, die zunächst der jüdischen Gemeinde in Hamburg unterstellt war. Seit 2004 gibt es in Kiel wieder zwei eigenständige jüdische Gemeinden. Im 1998 im ehemaligen Volksbad in Gaarden errichteten Jüdischen Gemeindezentrum treffen sich etwa 480 orthodoxe Juden. Eine liberale Gemeinde hatte ihre Synagoge zunächst seit 2006 in der Eckernförder Straße und zog 2008 in ein Gemeindezentrum in der Jahnstraße um. Die noch provisorische Synagoge für die 90 Mitglieder soll im kommenden Jahr offiziell eingeweiht werden.

    Autorin: Christa Geckeler (1937 - 2014)

    Literatur

    Antifaschistische Stadtführung,

    Kiel 1933-1945, Veröffentlichung des Arbeitskreis Asche-Prozess, Kiel 1988

    Dokumentation zur Geschichte der Kieler Synagoge und des Mahnmals an der Goethestraße 13,

    hrsg. von der Pressestelle der Versorgung und Verkehr Kiel GmbH (VVK), Kiel 1992, S. 33-37

    Freimark, Peter, Wolfgang Kopitzsch

    Der 9./10. November 1938 in Deutschland. Dokumentation zur „Kristallnacht“, Sonderauflage für die Landeszentrale für Politische Bildung, Schleswig-Holstein, Hamburg 1988

    Hauschildt-Staff, Dietrich

    Novemberpogrom. Zur Geschichte der Kieler Juden im Oktober/November 1938, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Band 74, 1988, S. 129-172

    Hofer, Walther (Hg.)

    Der Nationalsozialismus, Dokumente 1933-1945, Fischer Taschenbuch, Frankfurt/Main 1982, S.267-312

    Kieler Express

    vom 25. Mai 1988, vom 8. Februar 2006

    Kieler Nachrichten

    vom 7. November 1978, vom 9. November 1988, vom 9. November 1993, vom 15. September 1998, vom 2. September 2008, vom 18. September 2008

    Ladyschenskaja, Viktoria

    Jüdische Gemeinde im Aufbau, in: Schleswig-Holstein, Heft 7/8, 2000, S. 75

    Stolz, Gerd

    Menschen und Ereignisse – Gedenktafeln in Kiel, Husum 2001, S. 116-119

    Wulf, Peter

    Die Verfolgung der schleswig-holsteinischen Juden im November 1938, in: Die Juden in Schleswig-Holstein, Gegenwartsfragen 58, Landeszentrale für Politische Bildung in Schleswig-Holstein, Kiel 1988, S. 25-38

    Dieser Artikel kann unter Angabe des Namens der Autorin Christa Geckeler, des Titels Kieler Erinnerungstage: 9. November 1938 | Novemberpogrom in Kiel und des Erscheinungsdatums 09. November 2008 zitiert werden.

    Zitierlink: https://www.kiel.de/erinnerungstage?id=95