Wie profitiert Deutschland von der EU

Frieden, Freiheit, Sicherheit, Garantie der Menschenrechte, Eindämmung sozialer Ungerechtigkeit und Diskriminierung, Fortschritt und eine nachhaltige Entwicklung der Wirtschaft – all das sind Ziele und Werte, die die Europäische Union im Vertrag von Lissabon und in ihrer Grundrechte-Charta festgelegt hat.

Doch was bedeutet das in der Realität? Wie stark profitieren die einzelnen Nationalstaaten und Regionen wirklich von einer Mitgliedschaft in der EU?

Wer zahlt, wer nimmt?

Alle Nationalstaaten müssen Geld an die EU zahlen. Wie hoch die Beiträge sind, ergibt sich einerseits aus einem Anteil an der von den Staaten erhobenen Mehrwertsteuer und andererseits aus Abgaben, die sich am jeweiligen Bruttonationaleinkommen orientieren.

Die Länder, die mehr an die EU zahlen als sie EU-Gelder bekommen, werden als Nettozahler bezeichnet. Länder, die mehr Gelder bekommen als sie an Brüssel überweisen, werden umgekehrt als Nettoempfänger bezeichnet.

Betrachtet man den Anteil der EU-Zahlungen am Bruttoinlandsprodukt (BIP), waren im Jahr 2017 Deutschland, Schweden, Österreich, Dänemark und Großbritannien die größten Nettozahler. Litauen, Bulgarien, Ungarn, Griechenland und Estland waren demnach die größten Nettoempfänger.

Anzeige

Doch diese Betrachtungsweise wird seit Jahren als zu eng kritisiert. EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger bezeichnete die Nettozahlerdebatte im Februar 2018 als “zunehmend sinnentleert.” Die Salden sind von zahlreichen Faktoren beeinflusst, zudem ist die Frage danach, wie ein Staat von der EU-Mitgliedschaft profitiert oder nicht profitiert, vielschichtiger als der reine Blick auf EU-Gelder.

Vorteile durch Binnenmarkt

Daher lohnt es, die wirtschaftliche Entwicklung der Länder vor dem Hintergrund des europäischen Binnenmarkts und der Währungsunion zu betrachten. Ein Binnenmarkt hat grundsätzlich wesentliche und unmittelbare positive Auswirkungen auf Beschäftigung und Wachstum. Er ermöglicht es Unternehmen, effizienter zu arbeiten, er schafft Arbeitsplätze, und ermöglicht es Menschen, auch in anderen Ländern als ihrer Heimat zu arbeiten.

"Rein ökonomisch profitiert jedes Land davon, dass es Teil der EU ist – als Teil der Zollunion und der Freihandelszone, ganz unabhängig zunächst von der politischen Union”, sagt Politikwissenschaftler Andreas Maurer von der Universität Innsbruck im Gespräch mit FOCUS Online. Auch habe die Einführung des Euro beispielsweise dazu geführt, dass für alle Roaming-Gebühren beim Mobilfunk und die Kosten für Elektronik gesunken sind. Der Konkurrenzdruck nimmt zu, dadurch werden Produkte für Verbraucher in allen Ländern billiger.

Löhne und Gehälter sind vielerorts gestiegen. In allen 28 Mitgliedsländern ist das reale Einkommen seit 2014 gestiegen – jedoch unterschiedlich stark. Deutschland liegt weit vorne – dahinter folgen Frankreich, Großbritannien, die Niederlande und Italien. Die Schlusslichter sind Litauen, Estland, Lettland, Malta und Zypern. Doch auch das gilt es, differenziert zu betrachten.

Pro Kopf hat jeder Bürger in Deutschland mittlerweile ungefähr 70.000 Euro mehr in der Tasche als es ohne den Euro der Fall wäre, sagt Experte Maurer. “Aber dabei müssen wir auch bedenken, dass vier Millionen Hartz-IV-Empfänger davon nur träumen können – innerhalb Deutschlands gibt es eine extreme Kluft zwischen den Gewinnern und Verlierern der Währungsunion. Denn der kontinuierliche Wirtschaftsaufschwung in Deutschland ging nicht einher mit einer entsprechenden Lohnentwicklung." 

Auch Süd- und Osteuropa profitieren

Wie sieht es im Rest Europas aus? Die südeuropäischen Länder wie Spanien, Italien und Portugal profitieren stark von den Infrastrukturmaßnahmen der EU. Maurer sagt: "Ohne die Fördergelder der EU und ohne die Tatsache, dass diese Länder über große Verkehrs- und Telekommunikationsachsen an Europa angebunden sind, hätten viele südeuropäische Staaten den Ausbau ihrer Infrastruktur niemals finanziert."

Damit gehen Modernisierungsschübe einher. Als die Länder EU-Mitglied wurden, waren sie von Landwirtschaft und Fischerei geprägt, hatten keine wirkliche Industrie. "Durch die EU-Mitgliedschaft haben sie sich massiv industrialisiert." Heute gibt es in Südeuropa im Bereich der Digital-Ökonomie oder der Künstlichen Intelligenz genauso Startups wie in Estland oder Irland – das gäbe es ohne die Strukturhilfen der EU oder kostengünstige Kredite der europäischen Investitionsbank nicht, argumentiert Politikwissenschaftler Maurer.

Auch in Osteuropa gibt es dem Experten zufolge kein Land, das wirtschaftlich nicht massiv von der EU-Mitgliedschaft profitiert hätte. "Für viele Unternehmer in der westeuropäischen verarbeitenden Industrie ist Osteuropa die verlängerte Werkbank”, erklärt Maurer. Das habe gleichzeitig zu Zerwürfnissen in Deutschland und anderen Ländern geführt, aber das heiße für Länder wie Tschechien, Polen oder die baltischen Republiken, dass sie sich in sehr kurzer Zeit in bestimmten High-Tech-Bereichen wirklich zu Meistern entwickelt haben.

Und in den ersten zehn, fünfzehn Jahren nach dem EU-Beitritt waren die Arbeitskräfte aus Osteuropa sehr viel billiger und konkurrenzfähiger als Westeuropäer. Keine der großen Industrien in Osteuropa hätte überlebt, ohne dass die EU dort investiert hätte, sagt der Politikwissenschaftler.

Die Frage, wer aus wirtschaftlicher Sicht wie von der EU profitiert, ist vielschichtig. Manchmal verlieren einige, weil andere gewinnen. "Das Problem ist ein allgemeiner Fahrstuhleffekt, der mit der Integration einhergeht. Das heißt, es gewinnen zwar alle. Aber es gewinnen eben alle von unterschiedlichen Niveaus aus.

Die Niveaus seien zwar über die Integrationszeit hochgefahren. Damit habe sich aber der ursprüngliche Unterschied, zum Beispiel bezüglich der Einkommensschere zwischen Gut- und Schlechtverdienern, nicht verändert. “Es kriegen alle ein bisschen mehr, aber das Verhältnis ändert sich nicht”, sagt der Politikwissenschaftler.

Kulturwissenschaftler Jürgen Neyer von Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) betont im Gespräch mit FOCUS Online, dass sich die die Frage nach dem wirtschaftlichen Erfolg nicht nur aus nationalstaatlicher Sicht bewerten lässt. Die eigentliche Grenze verläuft für ihn nicht zwischen Ländern, sondern zwischen den Bevölkerungsschichten: “Wir haben einen großen Anteil Hochqualifizierter, für die das alles wunderbar ist – für die gibt es viele neue Chancen, sie können in verschiedenen Ländern arbeiten, sie sprechen verschiedene Sprachen, Europa ist für sie ein Ort großartiger neuer Gelegenheiten.”

Ganz anders stelle sich die Situation für die Menschen dar, die in den Peripherien der deutschen Großstädte, in den Banlieues in Frankreich oder in den italienischen Vorstädten leben und häufig relativ schlecht sind. “Sie leben in Hochlohnländern und müssen durch die EU auf dem Arbeitsmarkt mit Leuten konkurrieren, die ähnlich qualifiziert sind, aber bereit sind, für viel weniger Geld zu arbeiten. Diese Menschen geraten durch die EU unter einen ganz anderen Druck”, sagt Neyer.

Doch auch innerhalb der ärmeren Schichten gilt es, zu differenzieren. Während Geringqualifizierte in Hochlohnländern abgehängt zu werden drohen, kann die selbe Schicht in ärmeren Ländern davon profitieren.

Denn wer auf der unteren Seite der ärmeren Gesellschaften etwa in Rumänien, Bulgarien, Polen oder Portugal lebe, für den sei Europa eine Chance, erklärt Kulturwissenschaftler Neyer. Die Freizügigkeit im Binnenmarkt gibt ihnen nämlich zumindest die Möglichkeit, in einen anderen Staat zu ziehen und dort ein besseres Leben zu führen oder zumindest die eigene Arbeitskraft für mehr Geld anzubieten als in der Heimat.

Fördermittel sollen gleichwertige Verhältnisse schaffen

Ein weiterer Vorteil der EU-Mitgliedschaft ist der Zugang zu den Fördertöpfen. Im Rahmen von Fonds werden Hunderttausende Projekte in ganz Europa mit Geldern unterstützt, um eine“ausgewogenere, nachhaltigere territoriale Entwicklung“ zu ermöglichen. Es gibt insgesamt fünf Struktur- und Investitionsfonds. Den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE), den Europäischen Sozialfonds (ESF), den Kohäsionsfonds, den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) und den Europäischen Meeres- und Fischerei-Fonds (EMFF).

Es ist politisch gewollt, Regionen mit Entwicklungsrückstand in Richtung des EU-Durchschnitts zu entwickeln und zu fördern. Das betrifft vor allem den Kohäsionsfonds. Der findet nur in EU-Mitgliedstaaten Einsatz, deren BIP unter 90 Prozent des EU-Durchschnitts liegt. Das betrifft aktuell Bulgarien, Estland, Griechenland, Kroatien, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Portugal, Rumänien, die Slowakei, Slowenien, die Tschechische Republik, Ungarn und Zypern. "Diese Staaten werden im Bereich Umwelt-, Klima-, Energie und Infrastrukturpolitik massiv gefördert, um überhaupt binnenmarktfähig zu sein”, sagt Politikwissenschaftler Maurer.

Die restlichen Fonds stehen allen anderen Ländern zur Verfügung. Um die Berechtigung und Verteilung zu regeln, ist die EU in regionale Einheiten, sogenannte Nuts unterteilt. So können Landwirte in Süd- und Osteuropa genauso von Agrarsubventionen profitieren wie Landwirte in Innsbruck, NRW, Schleswig-Holstein oder Ostdeutschland. Nur nutzen nicht alle diese potenziellen Fördergelder auf dieselbe Weise, wie Maurer erklärt: “Das hängt an der Frage, wer die Kapazität und den politischen Willen hat, die Fördergelder zu beantragen. Und da gibt es einen großen Unterschied. Staaten wie Irland und Zypern haben eine Verwaltung, die extrem gut ausgebildet und ausgerichtet ist auf das geschickte Abfragen von Fördermitteln und deren Umsetzung.”

Sicherheit und Stabilität, gerade für kleine Länder

Doch letztlich geht es in der EU natürlich nicht nur ums Geld. Auch Fragen der politischen Stabilität und Sicherheit sind relevant. “Alle Mitgliedstaaten sind heute sicherer”, sagt Kulturwissenschaftler Neyer. “Beim Thema Sicherheit können wir uns auf Immanuel Kant berufen: Demokratien zusammen stabilisieren sich, geben sich Vertrauen und Sicherheit, keiner muss mehr Angst vor dem Anderen haben.”

Vor allem Kleinstaaten wie Dänemark, Luxemburg und Malta profitieren stark davon. Sie bräuchten eigentlich keine Außenpolitik mehr zu machen, sondern könnten einfach bei den großen Staaten mitschwimmen und hätten eine viel größere Verhandlungsmacht gegenüber Dritten, sagt Neyer. Und klar ist auch: In Europa gibt es seit mehr als 70 Jahren Frieden – so lange wie noch nie in der Geschichte Europas.

Im Video: Wie die deutsche Wirtschaft vom EU-Binnenmarkt profitiert

Bayerischer Rundfunk Sorgt für höhere Gehälter: Wie die deutsche Wirtschaft vom EU-Binnenmarkt profitiert

KT