Warum dieses Buch? An Was man von hier aus sehen kann von Mariana Leky kam man im letzten Jahr quasi überhaupt nicht vorbei (obwohl schon 2017 veröffentlicht). Für gewöhnlich begegne ich Büchern, die dermaßen präsent sind und dann noch von allen Seiten in höchsten Tönen gelobt werden ja mit äußerster Skepsis – nichts ist so verdächtig wie uneingeschränkte Begeisterung! Viele, viele Bücher habe ich deswegen schon links liegen lassen. Nicht so in diesem Fall. Ich kann allerdings nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, was Ausschlag gab, den Roman trotzdem zu lesen. Vielleicht war es, weil er schon kurz nach Veröffentlichung meine Neugier geweckt hatte, oder weil er ein Jahr später immer noch in aller Munde war. Wie auch immer: uneingeschränkte Begeisterung nun auch meinerseits. Worum geht’s? Selma hat geträumt: Sie steht in einem Nachthemd auf einer Wiese am Waldrand; einige Schritte von ihr entfernt steht ein Okapi. Sie und das Okapi stehen ganz still, keiner gibt einen Laut von sich. Zuerst sieht Selma das Tier nur aus den Augenwinkeln, dann schauen sie sich unverwandt an. Selma erwacht. Es ist nicht das erste Mal, dass sie von einem Okapi träumt und die Bedeutung des Traums ist eindeutig: in den nächsten vierundzwanzig Stunden wird jemand im Dorf sterben. Wann genau das sein wird und wen es trifft, ist ungewiss. Selma erzählt ihrer Enkelin Luise von dem Traum, und ihrer Schwägerin Elsbeth. Dank Elsbeth weiß es in kürzester Zeit das gesamte Dorf. Angesichts des möglichen drohenden Todes gestehen die Bewohner lang gehütete Geheimnisse, fürchten unausgesprochene Wahrheiten oder versuchen Beweise derselben verschwinden zu lassen, andere betonen demonstrativ, nicht an solchen Humbug zu glauben. Worum geht’s wirklich? Schauplatz ist ein nicht näher benanntes Dorf im Westerwald. Hier lebt Selma, die aussieht wie Rudi Carrell und die Mon Chérie-Pralinen gerne das Innenleben aussaugt. Die resolute Witwe ist eine Institution im Dorf: ihr legt man wichtige Briefe zur Durchsicht vor, sie hat lebensweise Ratschläge parat, ihr Küchentisch ist das schlagende Herz der kleinen Gemeinschaft, die Gegenstand des Romans ist. Da ist zum Beispiel die ewiglich deprimierte Marlies, die an ausnahmslos allem etwas auszusetzen hat und fast nie ihr Haus verlässt, wo sie in verwaschenem Slip und ausgeleiertem Norwegerpullover Erbsen aus der Dose isst. Elsbeth ist hochgradig abergläubisch, geht damit allen auf die Nerven, wird im Angesicht von Selmas Traum aber sicherheitshalber doch vom halben Dorf aufgesucht, um Tipps gegen den Tod einzuholen. Der Optiker hegt eine verstohlene Liebe für Selma, hat ihr einen Koffer voller Briefanfänge geschrieben und seine Gefühle doch immer für sich behalten – trotzdem weiß jeder um seine Schwärmerei (außer Selma). Dann ist da Luise, Selmas Enkelin, die quasi von der Großmutter und dem Optiker großgezogen wird, da ihre Eltern zu beschäftigt sind, um Zeit für die Tochter zu haben. So wird Luises Mutter beispielsweise von der Frage umgetrieben, ob sie Luises Vater verlassen soll. Dieser wiederum legt sich aufgrund seines Psychoanalytikers Dr. Maschke zuerst einen riesengroßen Hund zu und zieht später in die Welt hinaus. Luises bestem Freund Martin, der Gewichtheber werden möchte, steht immer eine Haarsträhne ab. Genau wie seinem Vater, einem versoffenen Jäger, der sich später zum gottesfürchtigen Frömmler mausert. Der Roman ist dreigeteilt. Der erste Teil gibt die vierundzwanzig Stunden (etwas mehr) nach Selmas Traum wieder. Hier werden die meisten Charaktere eingeführt und ihre vielgeflechtigen Beziehungen zueinander herausgearbeitet. Von Anfang an zentral ist auch der Schauplatz, mit dem die Figuren wie verwachsen scheinen, ein Mikrokosmos, der wesentlich zur Struktur beiträgt. Die Teile zwei und drei spielen jeweils etliche Jahre später. Über die gesamte erzählte Zeit von etwa 25 Jahren liegt der Fokus sowohl auf der zwischenmenschlichen Ebene als auch auf dem Innenleben der Individuen. Der innere Aufruhr eines jeden Charakters, der von den anderen (vermeintlich) unbemerkt vonstattengeht – unartikulierte Ängste, Sorgen, Nöte – ist eingebettet in ein teilweise schon überfürsorgliches Füreinanderdasein aber auch in Versuchen der Abnabelung. Die Außenwelt scheint keinerlei Bedeutung zu haben: Auf tagespolitische oder historische Ereignisse wird kein Bezug genommen, mit der einzigen Ausnahme des zweiten Weltkriegs, dem Luises Großvater zum Opfer fiel. Außer Luises Vater, der die anderen wiederholt dazu auffordert „mehr Welt hineinzulassen“, verlässt niemand die Region. Am Ende jedoch lässt Luise die Welt hinein in Form von Frederik, der in Japan ein Leben als buddhistischer Mönch führt. Wie liest es sich? Ab Seite eins war ich hingerissen, denn es menschelt sehr in Was man von hier aus sehen kann. Mariana Leky entwickelt verschrobene aber herzliche Charaktere, setzt sie in einen wundervollen Mikrokosmos und beobachtet sie. Fein platzierte Rückblenden komplettieren ihre Darstellung. Alle Figuren bewegen sich am Rand des Überzogenen, wirken aber niemals lächerlich. Im Gegenteil, in ihrer Marottenhaftigkeit sind sie über die Maßen liebenswürdig. Wahrscheinlich, weil die Autorin sie mit prägnanten Eigenschaften ausstaffiert, die klare Charaktere erschaffen aber keine Stereotype. In der Folge geht dem Roman alles Klischeehafte und Vorhersehbare ab – das gilt auch für das Romanende: obgleich alle Zeichen auf Happy End stehen, bleibt der Ausgang in mancherlei Hinsicht offen. Hier liegt sich niemand schmachtend in den Armen und säuselt süße Worte der Zuneigung. Das stünde dem Roman bei allem Vorhergegangenen auch nicht zu Gesicht. Neben den gelungenen Charakteren konnten mich auch Lekys Stil und Erzählweise überzeugen. Sie bedient sich einer klaren, pointierten Sprache, die aber viel Raum lässt für Warmherzigkeit und sogar einen Hauch von Rührseligkeit. Durch die vereinzelten fantastischen Elemente bekommt Was man von hier aus sehen kann Züge eines Märchens, gleichwohl das typische Element des Gut-gegen-Böse fehlt. Stattdessen geht es vielmehr um Schicksalhaftigkeit. Verschiedene Leitmotive und Wiederholungen alltäglicher Szenarien geben dem Roman einen Rhythmus, der eine Schönheit schafft, die in ihrer Schlichtheit geradewegs verzaubert. Indem immer wieder bereits Erzähltes erneut aufgegriffen wird, entwickelt sich ein kohärenter Erzählstrang von angenehmer Sogkraft. Was man von hier aus sehen kann ist ein sehr rhythmischer, in sich stimmiger Roman.
Gibt es einen Wermutstropfen? Zugegeben, der Roman schrabbt gelegentlich haarscharf am Kitschigen vorbei. Dass er nicht zur Schmonzette verkommt liegt daran, dass Leky den Kunstgriff fertigbringt, keine Klischees zu bedienen oder Stereotype aufleben zu lassen. Sie legt ihren Figuren keine schwülstigen Worte in den Mund und bleibt auch in emotional schwierigen Situationen klar.
Lohnt es sich? Was man von hier aus sehen kann ist ein Roman zum Lachen und Weinen. Er ist wunderbar verschroben und doch sehr menschlich – ein Highlight! Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann. Büchergilde Gutenberg (2018). Lesezeit: ca. 9 Minuten (300 WpM) Lesung am 6. April 2018 im Büchereck Niendorf Nord in Hamburg: Mariana Leky stellt ihren Roman »Was man von hier aus sehen kann« vor. Sie erzählt das Leben der Westerwälderin Luise von ihrem zehnten bis über ihr dreißigstes Lebensjahr hinaus und erschafft eine sprachliche Wunderwelt, die ihre Leser vor Entzücken strahlen lässt. Auch die vielen Besucher der Lesung zeigten sich begeistert. Verlagstext: Selma, eine alte Westerwälderin, kann den Tod voraussehen. Immer, wenn ihr im Traum ein Okapi erscheint, stirbt am nächsten Tag jemand im Dorf. Unklar ist allerdings, wen es treffen wird. Davon, was die Bewohner in den folgenden Stunden fürchten, was sie blindlings wagen, gestehen oder verschwinden lassen, erzählt Mariana Leky in ihrem Roman. Die Lesung in der Büchereck Niendorf Nord in Hamburg war restlos ausverkauft, als Mariana Leky im April aus ihrem Roman »Was man von hier aus sehen kann« las, der 2017 zum »Lieblingsbuch der Unabhängigen« gekürt wurde und auch heute noch Platz 12 der Spiegel-Bestsellerliste belegt. Die Veröffentlichung des Buches setzte eine Lawine an Lesungen in Gang. Achtundvierzig hatte Marina Leky mit diesem Abend hinter sich gebracht und weitere sechsundzwanzig Termine standen ihr noch bevor. Ganz sicher werden diesen noch weitere folgen, denn die sympathische Autorin und ihr großartiger Roman machten den Abend zu einem unvergesslichen Erlebnis. »In Selmas Traum stand das Okapi auf einer Wiese, nahe am Wald, in einer Gruppe von Feldern und Wiesen, die insgesamt »Uhlheck« heißen. Uhlheck bedeutet »Eulenwald«. Die Westerwälder sagen vieles anders und kürzer, als es eigentlich ist, weil sie das Sprechen gerne schnell hinter sich bringen. […] Selma und das Okapi standen im Traum auf der Uhlheck ganz still. […] [Selma] sah das Okapi nur ab und zu aus den Augenwinkeln an, von unten her, so, wie man jemanden anschaut, den man um einiges mehr liebt, als man preisgeben möchte.« Erster Teil / Weide, Weide / Seite 14 + 15 Wie aus diesem Zitat erkennbar ist, verwendet Mariana Leky eine ganz besondere Sprache. Es scheint, als wären nur ausgezeichnete Sätze im Buch enthalten und jeder von ihnen entfaltet einen ungeheuren Sog. Beim Lesen verlangt der nächste und wieder der nächste Absatz, gelesen zu werden und verspricht mit gekreuzten Fingern, sicher der letzte des Tages zu sein. Doch dieses Buch aus der Hand zu legen, sich von den liebenswerten Figuren und Lekys großartiger Sprache für einen Moment loszueisen fällt immens schwer. Zitate für die Rezension auszuwählen, war dann auch tatsächlich ein langwieriges Unterfangen. Zum Glück sind einige Sätze sehr lang und vermitteln in ihrer Gänze einen guten Eindruck davon, was die Leser von »Was man von hier aus sehen kann« erwartet. Okapis sind Paarhufer aus dem Regenwald Zentralafrikas. Sie erreichen im Schnitt eine Länge von 2,5 m, eine Schulterhöhe von 1,5 m und ein Gewicht von 250 kg. Die Entdeckung des Okapis ist schon allein spannend wie ein Roman. Geschichten über ein merkwürdig zusammengesetzt aussehendes Tier erreichten in den 1880er Jahren die Wissenschaft. Die Eingeborenen nannten das Tier, das sie als zusätzliche Nahrungsquelle nutzten, Okapi, doch da den Forschern nur die Fellreste gezeigt wurden und sie kein lebendes Exemplar zu Gesicht bekamen, erwarteten sie eine Zebra- also Kleinpferdart, die sie nach ihrem Entdecker Sir Harry Johnson Equus johnstoni nannten. Erst als auch Knochen des bis dahin unbekannten Tieres vorlagen, wurde es der Familie der Giraffenartigen zugeordnet und erhielt den Namen Okapia johnstoni. Das Okapi gilt leider als stark gefährdet und ist daher von der IUCN entsprechend eingestuft. »Ein Okapi ist absolut unglaubwürdig, in der Wirklichkeit nicht weniger als in den unheilvollen Träumen einer Westerwälderin. […] Es ist das letzte große Säugetier, das der Mensch entdeckt hat; das glaubt er jedenfalls. Vermutlich stimmt das auch, denn nach einem Okapi kann eigentlich nichts mehr kommen. Wahrscheinlich hat schon sehr viel früher einmal jemand ein Okapi inoffiziell entdeckt, aber vielleicht hat er beim Anblick des Okapis geglaubt, er träume oder habe den Verstand verloren, weil ein Okapi, besonders ein plötzliches und unerwartetes, absolut zusammengeträumt wirkt. Das Okapi wirkt alles andere als unheilvoll. Es kann überhaupt nicht unheilvoll wirken, selbst wenn es sich anstrengen würde, was es, soweit man weiß, selten tut.« Neben der poetischen, lustvollen Sprache, den unzähligen gelungenen Metaphern, Vergleichen und stilistischen Wiederholungen ist es besonders der Umgang und die Beschreibung der Dorfgemeinschaft, die den Roman ausmachen. Da ist die anfänglich angepasste und unentschlossene Luise, die bei genauer Betrachtung verschwommen wirkt, weil sie sich nie ganz in ihre Karte schauen lässt. Dann ihr bester Freund Martin, der wegen seines stets alkoholisierten und dadurch gewalttätigen Vaters fast ebenso viel Zeit mit Luises Großmutter Selma und dem Optiker verbringt wie Luise selbst. Der Optiker wiederum ist heimlich in Selma verliebt, was alle im Dorf wissen. Dann gibt es noch die traurige Marlies, die sich abgelehnt fühlt und darum die ganze Welt ablehnt und die abergläubische Elsbeth, die ein Heilmittel für alles weiß, nur nicht dafür, eine Liebe in etwas anderes zu verwandeln. Auch Nebenfiguren wie Luises Vater, sein Psychoanalytiker Dr. Maschke und Luises Chef, Herr Röder, werden fein ausgearbeitet. Und mitten hinein in diese Schicksalsgemeinschaft purzelt plötzlich und unerwartet, also auf die Art wie so oft etwas in diesem Roman passiert, Frederik, ein buddhistischer Mönch, in den sich Luise Hals über Kopf verliebt. Oft überspringen Eigenschaften und Talente eine Generation und meist verstehen sich Kinder mit ihren Großeltern besser als mit ihren Eltern. Bei Luise kommt noch erschwerend hinzu, dass ihre Eltern immer so sehr mit sich selbst und ihrer schwierigen Ehe beschäftigt sind, dass eigentlich die Großmutter mit Unterstützung des Optikers das Mädchen großzieht. Luise hat von ihrer Großmutter auch ein merkwürdiges Talent geerbt. Zwar sieht sie im Traum kein Okapi und sagt so einen Tod voraus, aber immer wenn sie lügt, geschieht etwas, das sich irgendwann als schicksalhaft erweisen wird. In dem Wechsel aus realistischer und halbfantastischer Welt, in der Wunder geschehen können, fühlte ich mich sofort ungemein wohl – so eine Lektüre kommt mir nicht alle Tage in die Finger und ich habe jedes Wort genossen und hätte am Ende am liebsten gleich wieder am Anfang angefangen. Auf den ersten Blick könnten die skurrilen Charaktere und verworrenen Vorfälle zu konstruiert wirken. Beim Lesen allerdings verschmelzen sie zu einem ganz besonderen und äußerst harmonischen Sprach- und Handlungsfluss und obwohl sie manchmal wie einem surrealistischen Gemälde entsprungen erscheinen, verlieren sie in ihrer feenhaften Leichtigkeit doch nie den Boden unter den Füßen. Ob jemand die Finger nicht von Veilchenpastillen lassen kann, immer und überall versucht, die Welt hereinzulassen, seine heimliche Liebe verschweigt, obwohl alle von ihr wissen oder der Verzehr eines Fledermausherzens jeden Schmerz verschwinden lassen soll – alle Bilder, die Mariana Leky zeichnet, sind kleine Meisterwerke und alle sind – wie alles auf der Welt – miteinander verbunden. Der Autorin gelingt es auf unnachahmliche Weise, diese einfache Wahrheit für ihre Leser sichtbar zu machen. Sieben Jahre habe sie insgesamt an dem Buch gearbeitet, erzählte Mariana Leky im Büchereck Niendorf Nord. Die erste Idee war, von jemandem zu schreiben, der aufgrund eines bestimmten Ereignisses immer die Liebe mit dem Tod verwechselt. Tatsächlich spielt der Tod in Lekys Roman zwar eine große Rolle, aber er wird als zum Leben dazugehörig beschrieben und wie im Leben selbst wechseln sich tieftraurige Abschnitte mit zum Schreien komischen ab, was »Was man von hier aus sehen kann« zu einer erfüllenden und ungemein schönen Lektüre macht. Auch wenn also in jedem der drei Buchteile eine Luise nahestehende Person stirbt, so fangen sich die Dorfbewohner gegenseitig auf, sind für einander da, akzeptieren die jeweiligen Macken und Besonderheiten. »Einige Leute im Dorf fanden, dass es jetzt unbedingt an der Zeit sei, mit einer verschwiegenen Wahrheit herauszurücken. Sie schrieben Briefe, ungewohnt wortreiche, in denen von »immer« und »niemals« die Rede war. Bevor man stirbt, fanden sie, sollte man wenigstens auf den letzten Drücker Wahrhaftigkeit ins Leben bringen. Und die verschwiegenen Wahrheiten, glaubten die Leute, sind die wahrhaftigsten überhaupt […] auch die Wahrheit selbst […] wollte kurz vor knapp unbedingt hinaus und drohte, dass es sich mit einer verschwiegenen Wahrheit im Leib besonders qualvoll stürbe, dass es ein langwieriges Tauziehen geben würde zwischen dem Tod, der auf der einen Seite zieht, und der korpulenten Wahrheit, die auf der anderen Seite zieht, weil sie verschwiegen nicht sterben möchte, weil sie bereits ihr ganzes Leben lang bestattet war, weil sie jetzt wenigstens einmal kurz hinauswill, entweder um bestialischen Gestank zu verbreiten und alle zu erschrecken, oder um festzustellen, dass sie, bei Licht betrachtet, gar nicht so grauenhaft und furchterregend war.« Mariana Lekys Eltern besaßen ein Ferienhaus im Westerwald, so dass die Autorin mehr Westerwälder als Kölner Kindheitserinnerungen besitzt, verriet die Wahl-Berlinerin ihrem gespannt lauschenden Publikum. Wer auch die anderen Bücher der Autorin gelesen hat, dem wird aufgefallen sein, dass die Figur des Optikers immer wieder auftaucht. Irgendwie findet dieser weise, alte Mann stets seinen Weg in Lekys Prosatexte. »Was man von hier aus sehen kann« bildet da keine Ausnahme. Der Optiker, dessen richtigen Namen die Leser erst ziemlich am Ende des Buches erfahren werden, bildet mit Selma gemeinsam das Herzstück des Dorfes. Sie sind die beiden Menschen, bei denen all die anderen Rat und Hilfe suchen und finden. Außerdem sind diese beiden die engsten Vertrauten der Hauptfigur Luise, aus deren Sicht das Buch erzählt ist. Der Titel »Was man von hier aus sehen kann« lässt sich auf vielfache Weise interpretieren. Sicher ist, dass es in Lekys Roman viel um das Sehen geht, darum, wie gut jemand zu erkennen ist, der einem sehr nahe steht oder wie gut jemand über eine jahrelange Brieffreundschaft entdeckt werden kann. Dann ist der Optiker natürlich auch für die visuellen Wahrnehmungsfähigkeiten des Dorfes mitverantwortlich. Darüber hinaus sieht Selma im Traum immer ein Okapi und Luises Vater will die ganze Welt sehen, um nichts zu verpassen, aber vielleicht ist es einfach nur das, was wir von dieser Dorfgemeinschaft, von diesem ganz besonderen Figurenkosmos sehen können, dieser durchdringende und doch liebevolle Blick durch ihr Vergrößerungsglas, den Mariana Leky uns gewährt. »Ich schloss die Augen, und als ich sie öffnete, ging Frederik bereits durch die Tür. […] Ich dachte, während ich der Tür beim Geschlossenwerden zusah, daran, dass Frederik gesagt hatte, er habe sich für diesen Weg entschieden, und ich dachte, dass ich mich noch nie für etwas entschieden hatte, dass mir alles immer eher widerfuhr, ich dachte, dass ich zu nichts wirklich Ja gesagt hatte, sondern immer nur nicht Nein. Ich dachte, dass man sich von aufgeplusterten Abschieden nicht ins Bockshorn jagen lassen darf, dass man ihnen sehr wohl von der Schippe springen kann, denn solang keiner stirbt, ist jeder Abschied verhandelbar. […] Und im allerletzten Moment, bevor die Tür das Schloss erreichte, bevor ein vorbeiziehendes Leben aufschlägt, sprang ich vor und stellte einen Fuß in die Tür.« Bei so vielen lieben Menschen und tieftraurigen Schicksalsschlägen gelingt es Mariana Leky aufgrund ihrer bewundernswerten Sprache und ihres feinsinnigen Humors, nicht einen Augenblick in Kitsch oder Rührseligkeit abzurutschen. Das Buch ist bisher schon in mehrere Sprachen übersetzt worden (niederländisch, chinesisch, koreanisch, türkisch und französisch) und eine Verfilmung wird gerade verhandelt. Es würde mich überaus freuen, all die liebgewonnenen Charaktere in einem Film wiederzutreffen. Ich hoffe, dass es dem Regisseur gelingen möge, all die Besonderheiten des Buches umzusetzen. Fazit: Mariana Lekys Roman »Was man von hier aus sehen kann« ist ein sprachliches Feuerwerk, das in einem Moment unendlich komisch und im nächsten zutiefst traurig ist. Der feine Humor der Autorin, ihre Metaphern und geschickten Verknüpfungen von Charaktereigenschaften und Handlungen sind einfach zum Niederknien. Eingangs werden Dinge erwähnt, die der Leser als Nebensächlichkeit abtun und überrascht sein kann, wenn sie am Ende des Buches in ihrer strahlenden Sinnhaftigkeit, wieder aufzutauchen. Mariana Lekys Roman »Was man von hier aus sehen kann« ist im Juli 2017 für EUR 20,00 im DuMont Verlag erschienen – gebunden, 320 Seiten, ISBN 978-3832198398. Über die Autorin: Mariana Leky studierte nach einer Buchhandelslehre Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Bei DuMont erschienen der Erzählband »Liebesperlen« (2001), die Romane »Erste Hilfe« (2004), »Die Herrenausstatterin« (2010) sowie »Bis der Arzt kommt. Geschichten aus der Sprechstunde« (2013). 2017 erschien ihr Roman »Was man von hier aus sehen kann«, der wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste stand. Die Autorin lebt in Berlin und Köln. Mit ihren ersten Erzählungen gewann sie den Allegra Preis 2000. Für den 2001 bei DuMont erschienenen Erzählband »Liebesperlen« wurde sie mit dem Niedersächsischen Literaturförderpreis und dem Stipendium des Landes Bayern ausgezeichnet. 2005 wurde sie für ihren Roman »Erste Hilfe« mit dem Förderpreis für junge Künstler in der Sparte Dichtung/Schriftstellerei des Landes NRW ausgezeichnet. »Was man von hier aus sehen kann« ist das »Lieblingsbuch der Unabhängigen« 2017 – gewählt von Buchhändlerinnen und Buchhändlern aus ganz Deutschland. Laila Mahfouz, 31. Mai 2018 Links: Die Fotostrecke zur Lesung finden Sie hier. Die Rechte der Fotos liegen bei Laila Mahfouz. Die Rechte am Titelfoto auf unserer Startseite liegen bei Franziska Hauser. Informationen auf den Seiten des DuMont Verlages finden Sie hier. Alle weiteren Lesungstermine finden Sie hier. Diesen sehr gelungenen Buchtrailer mit Okapi sollten Sie sich nicht entgehen lassen: Hörbuch: Roof Music brachte ebenfalls im Juli 2017 die Hörbuchausgabe von »Was man von hier aus sehen kann« (ISBN: 978-3864844362) in zum Glück ungekürzter Form heraus. Gelesen wird das Hörbuch auf ungemein eindringliche und beeindruckende Weise von der Schauspielerin Sandra Hüller. Leider wurde bei der Übertragung kein wahnsinnig großer Wert auf den korrekten Wortlaut gelegt. So wird aus dem 18. April in der Hörbuchausgabe der 19. April, aus einer Butterbrotdose wird leider auf magische Weise eine Frühstücksbox und so mancher Satz wird leicht gekürzt oder auch verlängert. Sie finden es (6 CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 8 Stunden und 3 Minuten) samt Hörprobe hier oder mit Klick aufs Bild. |