Was man von hier aus sehen kann kapitel zusammenfassung

Was man von hier aus sehen kann kapitel zusammenfassung

Nicht nur die Leute, die die verschwiegene und bleibte Wahrheit herumtrugen, auch die Wahrheit selbst glaubte an Wahrhaftigkeit auf den letzten Drücker. Auch sie wollte kurz vor knapp unbedingt hinaus und drohte, dass es sich mit einer verschwiegenen Wahrheit im Leibe besonders qualvoll stürbe, dass es ein langwieriges Tauziehen werden würde zwischen dem Tod, der auf der einen Seite zieht, und der korpulenten Wahrheit, die auf der anderen Seite zieht, weil sie verschwiegen nicht sterben möchte, weil sie bereits ihr ganzes Leben lang bestattet war, weil sie jetzt wenigstens einmal kurz hinaus will, entweder um bestialischen Gestank zu verbreiten und alle zu erschrecken, oder um festzustellen, dass sie, bei Licht betrachtet, gar nicht so grauenhaft und furchterregend war.

Warum dieses Buch?

An Was man von hier aus sehen kann von Mariana Leky kam man im letzten Jahr quasi überhaupt nicht vorbei (obwohl schon 2017 veröffentlicht). Für gewöhnlich begegne ich Büchern, die dermaßen präsent sind und dann noch von allen Seiten in höchsten Tönen gelobt werden ja mit äußerster Skepsis – nichts ist so verdächtig wie uneingeschränkte Begeisterung! Viele, viele Bücher habe ich deswegen schon links liegen lassen. Nicht so in diesem Fall. Ich kann allerdings nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, was Ausschlag gab, den Roman trotzdem zu lesen. Vielleicht war es, weil er schon kurz nach Veröffentlichung meine Neugier geweckt hatte, oder weil er ein Jahr später immer noch in aller Munde war. Wie auch immer: uneingeschränkte Begeisterung nun auch meinerseits.

Worum geht’s?

Selma hat geträumt: Sie steht in einem Nachthemd auf einer Wiese am Waldrand; einige Schritte von ihr entfernt steht ein Okapi. Sie und das Okapi stehen ganz still, keiner gibt einen Laut von sich. Zuerst sieht Selma das Tier nur aus den Augenwinkeln, dann schauen sie sich unverwandt an. Selma erwacht. Es ist nicht das erste Mal, dass sie von einem Okapi träumt und die Bedeutung des Traums ist eindeutig: in den nächsten vierundzwanzig Stunden wird jemand im Dorf sterben. Wann genau das sein wird und wen es trifft, ist ungewiss. Selma erzählt ihrer Enkelin Luise von dem Traum, und ihrer Schwägerin Elsbeth. Dank Elsbeth weiß es in kürzester Zeit das gesamte Dorf. Angesichts des möglichen drohenden Todes gestehen die Bewohner lang gehütete Geheimnisse, fürchten unausgesprochene Wahrheiten oder versuchen Beweise derselben verschwinden zu lassen, andere betonen demonstrativ, nicht an solchen Humbug zu glauben.

Worum geht’s wirklich?

Schauplatz ist ein nicht näher benanntes Dorf im Westerwald. Hier lebt Selma, die aussieht wie Rudi Carrell und die Mon Chérie-Pralinen gerne das Innenleben aussaugt. Die resolute Witwe ist eine Institution im Dorf: ihr legt man wichtige Briefe zur Durchsicht vor, sie hat lebensweise Ratschläge parat, ihr Küchentisch ist das schlagende Herz der kleinen Gemeinschaft, die Gegenstand des Romans ist. Da ist zum Beispiel die ewiglich deprimierte Marlies, die an ausnahmslos allem etwas auszusetzen hat und fast nie ihr Haus verlässt, wo sie in verwaschenem Slip und ausgeleiertem Norwegerpullover Erbsen aus der Dose isst. Elsbeth ist hochgradig abergläubisch, geht damit allen auf die Nerven, wird im Angesicht von Selmas Traum aber sicherheitshalber doch vom halben Dorf aufgesucht, um Tipps gegen den Tod einzuholen. Der Optiker hegt eine verstohlene Liebe für Selma, hat ihr einen Koffer voller Briefanfänge geschrieben und seine Gefühle doch immer für sich behalten – trotzdem weiß jeder um seine Schwärmerei (außer Selma). Dann ist da Luise, Selmas Enkelin, die quasi von der Großmutter und dem Optiker großgezogen wird, da ihre Eltern zu beschäftigt sind, um Zeit für die Tochter zu haben. So wird Luises Mutter beispielsweise von der Frage umgetrieben, ob sie Luises Vater verlassen soll. Dieser wiederum legt sich aufgrund seines Psychoanalytikers Dr. Maschke zuerst einen riesengroßen Hund zu und zieht später in die Welt hinaus. Luises bestem Freund Martin, der Gewichtheber werden möchte, steht immer eine Haarsträhne ab. Genau wie seinem Vater, einem versoffenen Jäger, der sich später zum gottesfürchtigen Frömmler mausert.

Der Roman ist dreigeteilt. Der erste Teil gibt die vierundzwanzig Stunden (etwas mehr) nach Selmas Traum wieder. Hier werden die meisten Charaktere eingeführt und ihre vielgeflechtigen Beziehungen zueinander herausgearbeitet. Von Anfang an zentral ist auch der Schauplatz, mit dem die Figuren wie verwachsen scheinen, ein Mikrokosmos, der wesentlich zur Struktur beiträgt. Die Teile zwei und drei spielen jeweils etliche Jahre später. Über die gesamte erzählte Zeit von etwa 25 Jahren liegt der Fokus sowohl auf der zwischenmenschlichen Ebene als auch auf dem Innenleben der Individuen. Der innere Aufruhr eines jeden Charakters, der von den anderen (vermeintlich) unbemerkt vonstattengeht – unartikulierte Ängste, Sorgen, Nöte – ist eingebettet in ein teilweise schon überfürsorgliches Füreinanderdasein aber auch in Versuchen der Abnabelung. Die Außenwelt scheint keinerlei Bedeutung zu haben: Auf tagespolitische oder historische Ereignisse wird kein Bezug genommen, mit der einzigen Ausnahme des zweiten Weltkriegs, dem Luises Großvater zum Opfer fiel. Außer Luises Vater, der die anderen wiederholt dazu auffordert „mehr Welt hineinzulassen“, verlässt niemand die Region. Am Ende jedoch lässt Luise die Welt hinein in Form von Frederik, der in Japan ein Leben als buddhistischer Mönch führt.

Wie liest es sich?

Ab Seite eins war ich hingerissen, denn es menschelt sehr in Was man von hier aus sehen kann. Mariana Leky entwickelt verschrobene aber herzliche Charaktere, setzt sie in einen wundervollen Mikrokosmos und beobachtet sie. Fein platzierte Rückblenden komplettieren ihre Darstellung. Alle Figuren bewegen sich am Rand des Überzogenen, wirken aber niemals lächerlich. Im Gegenteil, in ihrer Marottenhaftigkeit sind sie über die Maßen liebenswürdig. Wahrscheinlich, weil die Autorin sie mit prägnanten Eigenschaften ausstaffiert, die klare Charaktere erschaffen aber keine Stereotype. In der Folge geht dem Roman alles Klischeehafte und Vorhersehbare ab – das gilt auch für das Romanende: obgleich alle Zeichen auf Happy End stehen, bleibt der Ausgang in mancherlei Hinsicht offen. Hier liegt sich niemand schmachtend in den Armen und säuselt süße Worte der Zuneigung. Das stünde dem Roman bei allem Vorhergegangenen auch nicht zu Gesicht.

Neben den gelungenen Charakteren konnten mich auch Lekys Stil und Erzählweise überzeugen. Sie bedient sich einer klaren, pointierten Sprache, die aber viel Raum lässt für Warmherzigkeit und sogar einen Hauch von Rührseligkeit. Durch die vereinzelten fantastischen Elemente bekommt Was man von hier aus sehen kann Züge eines Märchens, gleichwohl das typische Element des Gut-gegen-Böse fehlt. Stattdessen geht es vielmehr um Schicksalhaftigkeit. Verschiedene Leitmotive und Wiederholungen alltäglicher Szenarien geben dem Roman einen Rhythmus, der eine Schönheit schafft, die in ihrer Schlichtheit geradewegs verzaubert. Indem immer wieder bereits Erzähltes erneut aufgegriffen wird, entwickelt sich ein kohärenter Erzählstrang von angenehmer Sogkraft. Was man von hier aus sehen kann ist ein sehr rhythmischer, in sich stimmiger Roman.

Sie stand am Waldrand und zögerte ein letztes Mal. Nach Selmas Traum allein in den nächtlichen Wald zu gehen, war wie eine Einladung an den Tod, Elsbeth fand, dass sie sich ihm geradezu in die Arme warf. Andererseits wäre es irgendwie billig vom Tod, eine so offensichtliche Situation auszunutzen. Wieder andererseits stand der Tod jetzt unter immensem Zeitdruck, er hatte nur noch ungefähr eine Stunde, um zuzuschlagen, und da ist man weniger anspruchsvoll und gibt sich auch mit schludrigen Lösungen zufrieden.

Gibt es einen Wermutstropfen?

Zugegeben, der Roman schrabbt gelegentlich haarscharf am Kitschigen vorbei. Dass er nicht zur Schmonzette verkommt liegt daran, dass Leky den Kunstgriff fertigbringt, keine Klischees zu bedienen oder Stereotype aufleben zu lassen. Sie legt ihren Figuren keine schwülstigen Worte in den Mund und bleibt auch in emotional schwierigen Situationen klar.

„Könnten Sie wohl vorbeikommen?“ Der Optiker fragte das, als sei Frederik nicht am anderen Ende der Welt, sondern im Nachbardorf. „Natürlich,“ sagte Frederik.

Lohnt es sich?

Was man von hier aus sehen kann ist ein Roman zum Lachen und Weinen. Er ist wunderbar verschroben und doch sehr menschlich – ein Highlight!

Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann. Büchergilde Gutenberg (2018).

Lese­zeit: ca. 9 Minu­ten (300 WpM)

Lesung am 6. April 2018 im Bücher­eck Nien­dorf Nord in Ham­burg: Maria­na Leky stellt ihren Roman »Was man von hier aus sehen kann« vor. Sie erzählt das Leben der Wes­ter­wäl­de­rin Lui­se von ihrem zehn­ten bis über ihr drei­ßigs­tes Lebens­jahr hin­aus und erschafft eine sprach­li­che Wun­der­welt, die ihre Leser vor Ent­zü­cken strah­len lässt. Auch die vie­len Besu­cher der Lesung zeig­ten sich begeistert.

Was man von hier aus sehen kann kapitel zusammenfassung

Ver­lags­text: Sel­ma, eine alte Wes­ter­wäl­de­rin, kann den Tod vor­aus­se­hen. Immer, wenn ihr im Traum ein Oka­pi erscheint, stirbt am nächs­ten Tag jemand im Dorf. Unklar ist aller­dings, wen es tref­fen wird. Davon, was die Bewoh­ner in den fol­gen­den Stun­den fürch­ten, was sie blind­lings wagen, geste­hen oder ver­schwin­den las­sen, erzählt Maria­na Leky in ihrem Roman.
»Was man von hier aus sehen kann« ist das Por­trät eines Dor­fes, in dem alles auf wun­der­sa­me Wei­se zusam­men­hängt. Aber es ist vor allem ein Buch über die Lie­be unter schwie­ri­gen Vor­zei­chen, Lie­be, die schein­bar immer die ungüns­tigs­ten Bedin­gun­gen wählt. Für Lui­se zum Bei­spiel, Sel­mas Enke­lin, gilt es vie­le tau­send Kilo­me­ter zu über­brü­cken, denn der Mann, den sie liebt, ist zum Bud­dhis­mus kon­ver­tiert und lebt in einem Klos­ter in Japan.

Was man von hier aus sehen kann kapitel zusammenfassung

Die Lesung in der Bücher­eck Nien­dorf Nord in Ham­burg war rest­los aus­ver­kauft, als Maria­na Leky im April aus ihrem Roman »Was man von hier aus sehen kann« las, der 2017 zum »Lieb­lings­buch der Unab­hän­gi­gen« gekürt wur­de und auch heu­te noch Platz 12 der Spie­gel-Best­sel­ler­lis­te belegt. Die Ver­öf­fent­li­chung des Buches setz­te eine Lawi­ne an Lesun­gen in Gang. Acht­und­vier­zig hat­te Mari­na Leky mit die­sem Abend hin­ter sich gebracht und wei­te­re sechs­und­zwan­zig Ter­mi­ne stan­den ihr noch bevor. Ganz sicher wer­den die­sen noch wei­te­re fol­gen, denn die sym­pa­thi­sche Autorin und ihr groß­ar­ti­ger Roman mach­ten den Abend zu einem unver­gess­li­chen Erlebnis.

»In Sel­mas Traum stand das Oka­pi auf einer Wie­se, nahe am Wald, in einer Grup­pe von Fel­dern und Wie­sen, die ins­ge­samt »Uhl­heck« hei­ßen. Uhl­heck bedeu­tet »Eulen­wald«. Die Wes­ter­wäl­der sagen vie­les anders und kür­zer, als es eigent­lich ist, weil sie das Spre­chen ger­ne schnell hin­ter sich bringen. […] Sel­ma und das Oka­pi stan­den im Traum auf der Uhl­heck ganz still. […]

[Sel­ma] sah das Oka­pi nur ab und zu aus den Augen­win­keln an, von unten her, so, wie man jeman­den anschaut, den man um eini­ges mehr liebt, als man preis­ge­ben möchte.«


Ers­ter Teil / Wei­de, Wei­de / Sei­te 14 + 15

Wie aus die­sem Zitat erkenn­bar ist, ver­wen­det Maria­na Leky eine ganz beson­de­re Spra­che. Es scheint, als wären nur aus­ge­zeich­ne­te Sät­ze im Buch ent­hal­ten und jeder von ihnen ent­fal­tet einen unge­heu­ren Sog. Beim Lesen ver­langt der nächs­te und wie­der der nächs­te Absatz, gele­sen zu wer­den und ver­spricht mit gekreuz­ten Fin­gern, sicher der letz­te des Tages zu sein. Doch die­ses Buch aus der Hand zu legen, sich von den lie­bens­wer­ten Figu­ren und Lekys groß­ar­ti­ger Spra­che für einen Moment los­zu­ei­sen fällt immens schwer. Zita­te für die Rezen­si­on aus­zu­wäh­len, war dann auch tat­säch­lich ein lang­wie­ri­ges Unter­fan­gen. Zum Glück sind eini­ge Sät­ze sehr lang und ver­mit­teln in ihrer Gän­ze einen guten Ein­druck davon, was die Leser von »Was man von hier aus sehen kann« erwartet.

Was man von hier aus sehen kann kapitel zusammenfassung

Oka­pis sind Paar­hu­fer aus dem Regen­wald Zen­tral­afri­kas. Sie errei­chen im Schnitt eine Län­ge von 2,5 m, eine Schul­ter­hö­he von 1,5 m und ein Gewicht von 250 kg. Die Ent­de­ckung des Oka­pis ist schon allein span­nend wie ein Roman. Geschich­ten über ein merk­wür­dig zusam­men­ge­setzt aus­se­hen­des Tier erreich­ten in den 1880er Jah­ren die Wis­sen­schaft. Die Ein­ge­bo­re­nen nann­ten das Tier, das sie als zusätz­li­che Nah­rungs­quel­le nutz­ten, Oka­pi, doch da den For­schern nur die Fell­res­te gezeigt wur­den und sie kein leben­des Exem­plar zu Gesicht beka­men, erwar­te­ten sie eine Zebra- also Klein­pfer­d­art, die sie nach ihrem Ent­de­cker Sir Har­ry John­son Equus johns­to­ni nann­ten. Erst als auch Kno­chen des bis dahin unbe­kann­ten Tie­res vor­la­gen, wur­de es der Fami­lie der Giraf­fen­ar­ti­gen zuge­ord­net und erhielt den Namen Oka­pia johns­to­ni. Das Oka­pi gilt lei­der als stark gefähr­det und ist daher von der IUCN ent­spre­chend eingestuft.
War­um ist es aber ein Oka­pi, das Sel­ma in ihren tod­brin­gen­den Träu­men erscheint? Maria­na Leky hat sich für die­ses erstaun­li­che Tier ent­schie­den, weil es ein so abwe­gi­ges Tier ist und ihr daher sehr pas­send für ihr Buch erschien.

»Ein Oka­pi ist abso­lut unglaub­wür­dig, in der Wirk­lich­keit nicht weni­ger als in den unheil­vol­len Träu­men einer Wes­ter­wäl­de­rin. […] Es ist das letz­te gro­ße Säu­ge­tier, das der Mensch ent­deckt hat; das glaubt er jeden­falls. Ver­mut­lich stimmt das auch, denn nach einem Oka­pi kann eigent­lich nichts mehr kom­men. Wahr­schein­lich hat schon sehr viel frü­her ein­mal jemand ein Oka­pi inof­fi­zi­ell ent­deckt, aber viel­leicht hat er beim Anblick des Oka­pis geglaubt, er träu­me oder habe den Ver­stand ver­lo­ren, weil ein Oka­pi, beson­ders ein plötz­li­ches und uner­war­te­tes, abso­lut zusam­men­ge­träumt wirkt. Das Oka­pi wirkt alles ande­re als unheil­voll. Es kann über­haupt nicht unheil­voll wir­ken, selbst wenn es sich anstren­gen wür­de, was es, soweit man weiß, sel­ten tut.«
Ers­ter Teil / Wei­de, Wei­de / Sei­te 14

Neben der poe­ti­schen, lust­vol­len Spra­che, den unzäh­li­gen gelun­ge­nen Meta­phern, Ver­glei­chen und sti­lis­ti­schen Wie­der­ho­lun­gen ist es beson­ders der Umgang und die Beschrei­bung der Dorf­ge­mein­schaft, die den Roman aus­ma­chen. Da ist die anfäng­lich ange­pass­te und unent­schlos­se­ne Lui­se, die bei genau­er Betrach­tung ver­schwom­men wirkt, weil sie sich nie ganz in ihre Kar­te schau­en lässt. Dann ihr bes­ter Freund Mar­tin, der wegen sei­nes stets alko­ho­li­sier­ten und dadurch gewalt­tä­ti­gen Vaters fast eben­so viel Zeit mit Lui­ses Groß­mutter Sel­ma und dem Opti­ker ver­bringt wie Lui­se selbst. Der Opti­ker wie­der­um ist heim­lich in Sel­ma ver­liebt, was alle im Dorf wis­sen. Dann gibt es noch die trau­ri­ge Mar­lies, die sich abge­lehnt fühlt und dar­um die gan­ze Welt ablehnt und die aber­gläu­bi­sche Els­beth, die ein Heil­mit­tel für alles weiß, nur nicht dafür, eine Lie­be in etwas ande­res zu ver­wan­deln. Auch Neben­fi­gu­ren wie Lui­ses Vater, sein Psy­cho­ana­ly­ti­ker Dr. Masch­ke und Lui­ses Chef, Herr Röder, wer­den fein aus­ge­ar­bei­tet. Und mit­ten hin­ein in die­se Schick­sals­ge­mein­schaft pur­zelt plötz­lich und uner­war­tet, also auf die Art wie so oft etwas in die­sem Roman pas­siert, Fre­de­rik, ein bud­dhis­ti­scher Mönch, in den sich Lui­se Hals über Kopf verliebt.

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Oft über­sprin­gen Eigen­schaf­ten und Talen­te eine Genera­ti­on und meist ver­ste­hen sich Kin­der mit ihren Groß­el­tern bes­ser als mit ihren Eltern. Bei Lui­se kommt noch erschwe­rend hin­zu, dass ihre Eltern immer so sehr mit sich selbst und ihrer schwie­ri­gen Ehe beschäf­tigt sind, dass eigent­lich die Groß­mutter mit Unter­stüt­zung des Opti­kers das Mäd­chen groß­zieht. Lui­se hat von ihrer Groß­mutter auch ein merk­wür­di­ges Talent geerbt. Zwar sieht sie im Traum kein Oka­pi und sagt so einen Tod vor­aus, aber immer wenn sie lügt, geschieht etwas, das sich irgend­wann als schick­sal­haft erwei­sen wird. In dem Wech­sel aus rea­lis­ti­scher und halb­fan­tas­ti­scher Welt, in der Wun­der gesche­hen kön­nen, fühl­te ich mich sofort unge­mein wohl – so eine Lek­tü­re kommt mir nicht alle Tage in die Fin­ger und ich habe jedes Wort genos­sen und hät­te am Ende am liebs­ten gleich wie­der am Anfang angefangen.

Auf den ers­ten Blick könn­ten die skur­ri­len Cha­rak­te­re und ver­wor­re­nen Vor­fäl­le zu kon­stru­iert wir­ken. Beim Lesen aller­dings ver­schmel­zen sie zu einem ganz beson­de­ren und äußerst har­mo­ni­schen Sprach- und Hand­lungs­fluss und obwohl sie manch­mal wie einem sur­rea­lis­ti­schen Gemäl­de ent­sprun­gen erschei­nen, ver­lie­ren sie in ihrer feen­haf­ten Leich­tig­keit doch nie den Boden unter den Füßen. Ob jemand die Fin­ger nicht von Veil­chen­pas­til­len las­sen kann, immer und über­all ver­sucht, die Welt her­ein­zu­las­sen, sei­ne heim­li­che Lie­be ver­schweigt, obwohl alle von ihr wis­sen oder der Ver­zehr eines Fle­der­maus­her­zens jeden Schmerz ver­schwin­den las­sen soll – alle Bil­der, die Maria­na Leky zeich­net, sind klei­ne Meis­ter­wer­ke und alle sind – wie alles auf der Welt – mit­ein­an­der ver­bun­den. Der Autorin gelingt es auf unnach­ahm­li­che Wei­se, die­se ein­fa­che Wahr­heit für ihre Leser sicht­bar zu machen.

Was man von hier aus sehen kann kapitel zusammenfassung

Sie­ben Jah­re habe sie ins­ge­samt an dem Buch gear­bei­tet, erzähl­te Maria­na Leky im Bücher­eck Nien­dorf Nord. Die ers­te Idee war, von jeman­dem zu schrei­ben, der auf­grund eines bestimm­ten Ereig­nis­ses immer die Lie­be mit dem Tod ver­wech­selt. Tat­säch­lich spielt der Tod in Lekys Roman zwar eine gro­ße Rol­le, aber er wird als zum Leben dazu­ge­hö­rig beschrie­ben und wie im Leben selbst wech­seln sich tief­trau­ri­ge Abschnit­te mit zum Schrei­en komi­schen ab, was »Was man von hier aus sehen kann« zu einer erfül­len­den und unge­mein schö­nen Lek­tü­re macht. Auch wenn also in jedem der drei Buch­tei­le eine Lui­se nahe­ste­hen­de Per­son stirbt, so fan­gen sich die Dorf­be­woh­ner gegen­sei­tig auf, sind für ein­an­der da, akzep­tie­ren die jewei­li­gen Macken und Besonderheiten.

»Eini­ge Leu­te im Dorf fan­den, dass es jetzt unbe­dingt an der Zeit sei, mit einer ver­schwie­ge­nen Wahr­heit her­aus­zu­rü­cken. Sie schrie­ben Brie­fe, unge­wohnt wort­rei­che, in denen von »immer« und »nie­mals« die Rede war. Bevor man stirbt, fan­den sie, soll­te man wenigs­tens auf den letz­ten Drü­cker Wahr­haf­tig­keit ins Leben brin­gen. Und die ver­schwie­ge­nen Wahr­hei­ten, glaub­ten die Leu­te, sind die wahr­haf­tigs­ten über­haupt […] auch die Wahr­heit selbst […] woll­te kurz vor knapp unbe­dingt hin­aus und droh­te, dass es sich mit einer ver­schwie­ge­nen Wahr­heit im Leib beson­ders qual­voll stür­be, dass es ein lang­wie­ri­ges Tau­zie­hen geben wür­de zwi­schen dem Tod, der auf der einen Sei­te zieht, und der kor­pu­len­ten Wahr­heit, die auf der ande­ren Sei­te zieht, weil sie ver­schwie­gen nicht ster­ben möch­te, weil sie bereits ihr gan­zes Leben lang bestat­tet war, weil sie jetzt wenigs­tens ein­mal kurz hin­aus­will, ent­we­der um bes­tia­li­schen Gestank zu ver­brei­ten und alle zu erschre­cken, oder um fest­zu­stel­len, dass sie, bei Licht betrach­tet, gar nicht so grau­en­haft und furcht­erre­gend war.«
Ers­ter Teil / Wei­de, Wei­de / Sei­te 23 + 24

Maria­na Lekys Eltern besa­ßen ein Feri­en­haus im Wes­ter­wald, so dass die Autorin mehr Wes­ter­wäl­der als Köl­ner Kind­heits­er­in­ne­run­gen besitzt, ver­riet die Wahl-Ber­li­ne­rin ihrem gespannt lau­schen­den Publi­kum. Wer auch die ande­ren Bücher der Autorin gele­sen hat, dem wird auf­ge­fal­len sein, dass die Figur des Opti­kers immer wie­der auf­taucht. Irgend­wie fin­det die­ser wei­se, alte Mann stets sei­nen Weg in Lekys Pro­sa­tex­te. »Was man von hier aus sehen kann« bil­det da kei­ne Aus­nah­me. Der Opti­ker, des­sen rich­ti­gen Namen die Leser erst ziem­lich am Ende des Buches erfah­ren wer­den, bil­det mit Sel­ma gemein­sam das Herz­stück des Dor­fes. Sie sind die bei­den Men­schen, bei denen all die ande­ren Rat und Hil­fe suchen und fin­den. Außer­dem sind die­se bei­den die engs­ten Ver­trau­ten der Haupt­fi­gur Lui­se, aus deren Sicht das Buch erzählt ist.

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Der Titel »Was man von hier aus sehen kann« lässt sich auf viel­fa­che Wei­se inter­pre­tie­ren. Sicher ist, dass es in Lekys Roman viel um das Sehen geht, dar­um, wie gut jemand zu erken­nen ist, der einem sehr nahe steht oder wie gut jemand über eine jah­re­lan­ge Brief­freund­schaft ent­deckt wer­den kann. Dann ist der Opti­ker natür­lich auch für die visu­el­len Wahr­neh­mungs­fä­hig­kei­ten des Dor­fes mit­ver­ant­wort­lich. Dar­über hin­aus sieht Sel­ma im Traum immer ein Oka­pi und Lui­ses Vater will die gan­ze Welt sehen, um nichts zu ver­pas­sen, aber viel­leicht ist es ein­fach nur das, was wir von die­ser Dorf­ge­mein­schaft, von die­sem ganz beson­de­ren Figu­ren­kos­mos sehen kön­nen, die­ser durch­drin­gen­de und doch lie­be­vol­le Blick durch ihr Ver­grö­ße­rungs­glas, den Maria­na Leky uns gewährt.

»Ich schloss die Augen, und als ich sie öff­ne­te, ging Fre­de­rik bereits durch die Tür. […] Ich dach­te, wäh­rend ich der Tür beim Geschlos­sen­wer­den zusah, dar­an, dass Fre­de­rik gesagt hat­te, er habe sich für die­sen Weg ent­schie­den, und ich dach­te, dass ich mich noch nie für etwas ent­schie­den hat­te, dass mir alles immer eher wider­fuhr, ich dach­te, dass ich zu nichts wirk­lich Ja gesagt hat­te, son­dern immer nur nicht Nein. Ich dach­te, dass man sich von auf­ge­plus­ter­ten Abschie­den nicht ins Bocks­horn jagen las­sen darf, dass man ihnen sehr wohl von der Schip­pe sprin­gen kann, denn solang kei­ner stirbt, ist jeder Abschied ver­han­del­bar. […] Und im aller­letz­ten Moment, bevor die Tür das Schloss erreich­te, bevor ein vor­bei­zie­hen­des Leben auf­schlägt, sprang ich vor und stell­te einen Fuß in die Tür.«
Zwei­ter Teil / Es ist fol­gen­der­ma­ßen / Sei­te 138

Bei so vie­len lie­ben Men­schen und tief­trau­ri­gen Schick­sals­schlä­gen gelingt es Maria­na Leky auf­grund ihrer bewun­derns­wer­ten Spra­che und ihres fein­sin­ni­gen Humors, nicht einen Augen­blick in Kitsch oder Rühr­se­lig­keit abzu­rut­schen. Das Buch ist bis­her schon in meh­re­re Spra­chen über­setzt wor­den (nie­der­län­disch, chi­ne­sisch, korea­nisch, tür­kisch und fran­zö­sisch) und eine Ver­fil­mung wird gera­de ver­han­delt. Es wür­de mich über­aus freu­en, all die lieb­ge­won­ne­nen Cha­rak­te­re in einem Film wie­der­zu­tref­fen. Ich hof­fe, dass es dem Regis­seur gelin­gen möge, all die Beson­der­hei­ten des Buches umzusetzen.

Was man von hier aus sehen kann kapitel zusammenfassung

Fazit: Maria­na Lekys Roman »Was man von hier aus sehen kann« ist ein sprach­li­ches Feu­er­werk, das in einem Moment unend­lich komisch und im nächs­ten zutiefst trau­rig ist. Der fei­ne Humor der Autorin, ihre Meta­phern und geschick­ten Ver­knüp­fun­gen von Cha­rak­ter­ei­gen­schaf­ten und Hand­lun­gen sind ein­fach zum Nie­der­knien. Ein­gangs wer­den Din­ge erwähnt, die der Leser als Neben­säch­lich­keit abtun und über­rascht sein kann, wenn sie am Ende des Buches in ihrer strah­len­den Sinn­haf­tig­keit, wie­der aufzutauchen.
Es geht um das Leben und den Tod, um Fest­hal­ten und Los­las­sen, Freund­schaft und Lie­be, Ver­zweif­lung und Hin­nah­me, Gewohn­heit und Ver­än­de­rung und dar­um, den Mut zu fin­den, um einen Neu­be­ginn zu wagen, sich aus sei­nem ver­trau­ten und siche­ren Umfeld raus in die Welt zu bewe­gen – kurz um unend­lich vie­le wich­ti­ge The­men des mensch­li­chen (Zusammen-)lebens. Maria­na Leky hat eine Sym­pho­nie der mensch­li­chen Befind­lich­kei­ten und Eigen­ar­ten geschrie­ben und doch kommt das Buch ganz unauf­fäl­lig und lei­se daher, um sei­ne Leser dann mit vol­ler Wucht zu tref­fen und nicht mehr los­zu­las­sen. Wer die­ses Buch nicht liest, ver­säumt Stun­den ver­zück­ten Lese­ge­nus­ses – eine unbe­ding­te Leseempfehlung!

Maria­na Lekys Roman »Was man von hier aus sehen kann« ist im Juli 2017 für EUR 20,00 im DuMont Ver­lag erschie­nen – gebun­den, 320 Sei­ten, ISBN 978-3832198398.
Eine Lese­pro­be fin­den Sie hier.

Über die Autorin: Maria­na Leky stu­dier­te nach einer Buch­han­dels­leh­re Kul­tur­jour­na­lis­mus an der Uni­ver­si­tät Hil­des­heim. Bei DuMont erschie­nen der Erzähl­band »Lie­bes­per­len« (2001), die Roma­ne »Ers­te Hil­fe« (2004), »Die Her­ren­aus­stat­te­rin« (2010) sowie »Bis der Arzt kommt. Geschich­ten aus der Sprech­stun­de« (2013). 2017 erschien ihr Roman »Was man von hier aus sehen kann«, der wochen­lang auf der Spie­gel-Best­sel­ler­lis­te stand. Die Autorin lebt in Ber­lin und Köln. Mit ihren ers­ten Erzäh­lun­gen gewann sie den Alle­gra Preis 2000. Für den 2001 bei DuMont erschie­ne­nen Erzähl­band »Lie­bes­per­len« wur­de sie mit dem Nie­der­säch­si­schen Lite­ra­tur­för­der­preis und dem Sti­pen­di­um des Lan­des Bay­ern aus­ge­zeich­net. 2005 wur­de sie für ihren Roman »Ers­te Hil­fe« mit dem För­der­preis für jun­ge Künst­ler in der Spar­te Dichtung/Schriftstellerei des Lan­des NRW aus­ge­zeich­net. »Was man von hier aus sehen kann« ist das »Lieb­lings­buch der Unab­hän­gi­gen« 2017 – gewählt von Buch­händ­le­rin­nen und Buch­händ­lern aus ganz Deutschland.

Lai­la Mah­fouz, 31. Mai 2018

Links:

Die Foto­stre­cke zur Lesung fin­den Sie hier. Die Rech­te der Fotos lie­gen bei Lai­la Mah­fouz. Die Rech­te am Titel­fo­to auf unse­rer Start­sei­te lie­gen bei Fran­zis­ka Hauser.

Infor­ma­tio­nen auf den Sei­ten des DuMont Ver­la­ges fin­den Sie hier.

Alle wei­te­ren Lesungs­ter­mi­ne fin­den Sie hier.

Die­sen sehr gelun­ge­nen Buch­trai­ler mit Oka­pi soll­ten Sie sich nicht ent­ge­hen lassen:

Was man von hier aus sehen kann kapitel zusammenfassung

Hör­buch: Roof Music brach­te eben­falls im Juli 2017 die Hör­buch­aus­ga­be von »Was man von hier aus sehen kann« (ISBN: 978-3864844362) in zum Glück unge­kürz­ter Form her­aus. Gele­sen wird das Hör­buch auf unge­mein ein­dring­li­che und beein­dru­cken­de Wei­se von der Schau­spie­le­rin San­dra Hül­ler. Lei­der wur­de bei der Über­tra­gung kein wahn­sin­nig gro­ßer Wert auf den kor­rek­ten Wort­laut gelegt. So wird aus dem 18. April in der Hör­buch­aus­ga­be der 19. April, aus einer But­ter­brot­do­se wird lei­der auf magi­sche Wei­se eine Früh­stücks­box und so man­cher Satz wird leicht gekürzt oder auch verlängert.

Sie fin­den es (6 CDs mit einer Gesamt­lauf­zeit von 8 Stun­den und 3 Minu­ten) samt Hör­pro­be hier oder mit Klick aufs Bild.