Meine mutter hat depressionen wie kann ich ihr helfen

17.05.2015, 18:20 Uhr

Als sie in der Depression versank, glaubte sie, für ihre Familie sei es besser, wenn sie nicht mehr da wäre. Doch ihr Mann und ihre Töchter ließen sie nicht los. Die Geschichte eines Kampfes.

"Wenn ich an die Zeit denke, dann sehe ich Mama oben an der Treppe stehen, weinend, du bist weinend zu mir gekommen", sagt Tina, die Ältere.

"Ich sehe Mama im Bett liegen, wir sollen sie nicht stören", sagt Ellen, die Jüngere.

"Ich fragte nicht, warum das da ist, wer der Böse ist. Es gibt für mich kein Bild, keinen Geruch, keinen Geschmack. Ich kann nicht erklären, was oder wie diese Krankheit ist, nur, was sie mit Sabine gemacht hat", sagt Michael, der Ehemann.

"Es ist ja nicht so wie bei einer Grippe, da hast du Fieber und Schnupfen, hier sind die Symptome unterschiedlich", sagt Tina. "Man kann nicht aufstehen, weil", beginnt Ellen. "Angst vor dem Leben", unterbricht Tina. "Weil man Angst vor allem hat, was passieren kann, das lastet auf einem. Alles ist schwer, alles ist grau, man sieht die Farben nicht", sagt Ellen.

Sie sitzen um einen Tisch. Tina, die Ältere, 18 wird sie bald, lernt gerade für das Abitur, dann will sie nach Neuseeland; Ellen, die Jüngere, bald 16, liest viel, "Emilia Galotti" für die Schule, ginge es nach ihr, lieber Fantasy, Stephen Kings "Es" liegt neben ihrem Bett; Michael, 45, arbeitet in der Versicherungsabteilung eines großen Unternehmens, am liebsten liest er den "Kölner Stadt-Anzeiger" während des Karnevals: Keiner ist beklaut worden, keiner umgefallen, mal nicht so viel Düsteres, super. Und Sabine, seine Frau, eineinhalb Jahre jünger als er, Metzgermeisterin, aber nicht mehr im Beruf, sie bildet sich als Trauerbegleiterin fort.

"Superlieb ist sie, ein superfröhlicher Mensch"

Seit 26 Jahren kennen sie sich, er war einer von den Fußballjungs, die mit den Reitermädels Partys feierten. Sie mochten sich, aber wenn er in den Stall kam, sagt Michael, war es nie wegen Sabine. Einmal rief er Sabine an, er habe da ein Mädchen, mit dem es etwas kompliziert sei, er brauche mal ihre Meinung, ob sie es wert sei, Sabine kam und sagte: Kämpf, Bombenfrau. Michael und Sabine wurden beste Freunde, sie sahen sich zwei Stunden am Tag, und in der Nacht telefonierten sie drei. Später, mit 22, wurden sie ein Paar. "Tausendmal berührt, tausendmal ist nichts passiert" , summt Tina, da muss ich immer an euch denken. "Als ich sie kennenlernte", sagt Michael, "war Sabine ein Mensch, der machte Sachen mit, der haute schon mal auf die Kacke. Ich war stolz, hübsche Frau, cooles Auftreten, ordentliche Mucke hörten wir, Red Hot Chili Peppers, andere sagten: Die kann man gut zusammen einladen, mit denen hat man Spaß."

"Sie ist kein Adrenalinjunkie", sagt Ellen, "wir drei lieben das, aber Mama geht nicht auf Achterbahnen, sie hat Höhenangst. Superlieb ist sie, ein superfröhlicher Mensch. Sie hat mal ein Bild gemalt mit ganz viel Orange, diese Farbe, das ist Mama."

"Sie hat so ein schönes Lächeln", sagt Tina. "Es geht viel über ihr Gesicht. Sie strahlt gerne", sagt Michael. "Dieses Lächeln" , ruft Tina, "ich bin so neidisch, dass ich nicht ihren Mund abbekommen habe." "Lebensbejahend, offen, emotional, so ist heute Sabine", sagt Sabine.

Sie blättert in ihren Tagebüchern, zieht einzelne Blätter hervor, liniert, sie sucht nach Sätzen, die zeigen, wie das alles begann, mit diesem Fremden in ihrem Körper, 2006, sie waren gerade wieder zurück nach Köln gezogen, nach zweieinhalb Jahren in Irland auf dem Land. "Eine Bestandsaufnahme" hat Sabine über das Blatt geschrieben.

"Ich dachte, ich bin verrückt - nicht ich selbst"

Mo, 18.9.06 Es geht mir gerade ganz mies! War heute morgen schon antriebslos, erschöpft und ohne positive Energie. … Wenn's "ernster" wird, hab ich sofort die Tränen in den Augen. Schaffe es nicht, mir mit schönen Erlebnissen, Schlaf, kleinen Auszeitinseln am Tag ein Polster aufzubauen bzw. davon zu zehren.

So, 24.9.06 2. Bestandsaufnahme. Lachen kostet mich viel Kraft, bin oft den Tränen nahe … versuche mich durch gezielt ausgewähltes TV abzulenken, vermeide Menschen zufällig oder/und gezielt zu treffen, der Lärm und viele andere Dinge gehen mir auf die Nerven, fühle mich fast nur im Schlafzimmer auf meiner Bettseite sicher … habe den dauerhaft präsenten Wunsch nach RUHE und FRIEDEN.

27.9.06 Bestandsaufnahme, die 3. Meine Gesichtsmuskeln hängen runter - spürbar!

Bestandsaufnahme, die 4. Es ist, als stünde ich am Rand eines Spielplatzes und dürfte nicht mitspielen/ mitfreuen/mitlachen/mitleben … Michael sagte vor ein paar Tagen zu mir (als ich mal wieder heulend im Bett lag): "Das geht nicht so schnell. Das dauert halt noch!" Woher weiß er das? Ich weiß nämlich im Moment gar nichts! … Mein Wunsch ist ein Sanatorium, wo ich mich um nix kümmern muss, mit Essen versorgt werde, kein Input, nur heile Welt.

Muss ich mich einfach nur in den Hintern treten?

Sie klappt die Bücher zu, trinkt einen Schluck Wasser, auf dem Glas steht: Keep calm and stay positive. "Ich dachte ja, ich bin verrückt, ich bin nicht mehr ich selbst." Es gab keinen Namen für das in ihr. Und vor ihr gab es nur diesen Kirschzweig, auf der Motivtapete im Schlafzimmer, den sie anstarrte, wenn sie im Bett lag, tagsüber, Stunde um Stunde, nicht schlafen, nicht mal umdrehen, nur auf den Kirschzweig starren: Was hat das alles für einen Sinn? Sie stand auf, wenn sie arbeiten musste, dann ging sie die Treppe runter, rechts rum, in die Metzgerei, Schürze um: "Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?" Fassade aufsetzen, Feierabend um 14 Uhr, hinlegen, Kirschzweig, Stunden zählen: Wann kann ich schlafen? Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr, bin nur eine Last, allen nur eine Last, ohne mich wäre ihr Leben leichter.

"Als wir in Köln wohnten, Mama, da haben wir doch oft gesungen, der Mond scheint hell, und wir haben Flöte gespielt. Aber in deinem Schlafzimmer, da war ich nie, das war kein Zimmer für uns", sagt Ellen. "Ich habe das auch nur dunkel in Erinnerung, dunkel gestrichen, dunkle Vorhänge", sagt Tina.

"Da sollten wir, glaube ich, auch nie rein", sagt Ellen. "Zu meinen Freunden sagte ich: Leise sein, Mama schläft. Ich wusste ja, dass es ihr nicht gut ging, ich wollte sie nicht wecken", sagt Tina.

- Stell ich mich an?

- Muss ich mich einfach nur in den Hintern treten?

- Wo führt das hin?

- Ist diese Zeit verlorene Zeit?

- Wie lange kann/muss ich das aushalten?, schrieb Sabine damals in ihr Tagebuch.

Bei der schweren Depression will man tot sein

11. Februar 2007, ein milder Winterabend, 9 Grad, starke Böen. Ein Abend, der nicht umgehen wollte, erinnert sich Sabine, endlos. Du kannst nicht ins Bett, was machst du jetzt, wie vergeht Zeit? Sie zog die Jacke an, spazieren, einmal um den Block, am Kiosk vorbei. Kauf dir eine Zeitschrift, eine Zeitschrift lenkt ab, dann setzt du dich zu Hause an den Küchentisch. Die Kinder lagen im Bett, Michael hatte zu tun, sie blätterte, Seite 88, ein Dossier, sie las: Es gibt keine andere Erkrankung, bei der der Leidensdruck so groß ist. Die Verzweiflung führt dazu, dass viele Patienten den Wunsch verspüren, am nächsten Morgen einfach nicht mehr aufzuwachen. Bei allen anderen Krankheiten will man leben - bei der schweren Depression will man tot sein. "Dieser Text", sagt Sabine, "ist doch vom Himmel gefallen, der ist doch vom Himmel gefallen."

Als wären die Sätze für sie geschrieben worden. Auf Seite 97 machte sie einen Test. Frage 1: Leiden Sie unter gedrückter Stimmung? Ja. Frage 4: Leiden Sie unter fehlendem Selbstvertrauen und/oder Selbstwertgefühl? Ja. Frage 8: Leiden Sie seit mehr als zwei Wochen unter hartnäckigen Schlafstörungen? Ja. Frage 10: Leiden Sie seit mehr als zwei Wochen unter tiefer Verzweiflung und/oder Todesgedanken? Ja. Auswertung: Sie sollten unbedingt möglichst bald mit Ihrem Arzt sprechen.

Nächsten Tag zum Hausarzt, übernächsten zum Psychiater, Diagnose: schwere Depression. Eine Psychotherapie, empfahl der Psychiater und verschrieb ein Antidepressivum. Sabine saß ihm gegenüber, okay, aber was mache ich denn jetzt? - "Augen zu und durch. Was wollen Sie denn sonst machen?" Augen zu und durch. Niemand kann helfen, keine Rettung, dachte sie, alles lag an ihr, Augen zu und durch. Einmal die Woche ging sie zur Verhaltenstherapie.

"Zu lächeln war ein Kraftakt"

Sabine greift mit ihren Fingern in die Wangen, krallt sich in ihre Haut. Es war, sagt sie, als würden in meinem Gesicht Gewichte hängen. Ein Lächeln, das ist ja eigentlich wie Atmen, da denkt man nicht drüber nach, ein Lächeln geschieht, aber in der Depression, da war es ein Kraftakt, die Mundwinkel hochzukriegen; und wenn es ganz schwer war, war es nicht mal möglich, die Kraft für diesen Akt aufzubringen. "Es waren Tonnen an Gewicht in ihrem Gesicht", sagt Michael, "alles hing nach unten, die Schultern, der Körper. Ich konnte sehen, wenn es kommt, und ich konnte sehen, wenn es geht." Willkommen zurück, sagte er dann.

Die Depression kam in Episoden, Sabine stieg ein, innerhalb von wenigen Stunden, nach ein paar Malen wussten sie, wie das läuft. Vier, fünf, sechs Wochen dauerte es anfangs, alle ein bis zwei Monate, als würde sie auf einmal umhüllt, als bewegte sie sich hinter einer Wand, sie sah und hörte alles, aber sie war abgeschnitten, Gefühle gekappt, nichts kam an. Dann bekam die Hülle einen Riss, und sie stieg wieder aus. Willkommen, Sabine. "Mir wird kalt", sagt Sabine, während sie erzählt. Sie steht auf, steigt auf einen Hocker, schließt das Dachfenster, in der Ecke knistert das Holz im Ofen. "Vielleicht ist es nur, weil ich so emotional bin", sie zieht sich eine Strickjacke über, streift sich durchs Haar, legt Holz nach.

Es wurde wärmer draußen, Frühsommer 2007, sie ging arbeiten, Fassade, lachen; vor dem Haus fuhren Straßenbahn und Autos, je zwei Spuren in beide Richtungen. Sie muss sich ändern, wenn sie sich ändert, dann ist sie nicht weiter krank, so einfach: ändern, nicht mehr krank.

"Es geht nicht weiter. Ich kann das jetzt hier beenden"

Komm, Sabine, wenn du das Gefühl hast, du musst raus aus der Stadt, sagte eine Freundin, komm zu uns aufs Land, wir haben im Garten einen Wohnwagen stehen. Du gehst bei uns im Haus auf die Toilette, sonst hast du deine Ruhe. Für ein Wochenende fuhr sie aus der Stadt ins Tal, schlief im Wohnwagen, am Morgen las sie auf einem gelben Post-it: Guten Morgen! Ich hoffe, du hast gut geschlafen. PS: Deftig ist im Kühlschrank. Sie schmierte sich ein Brötchen, ging wandern, der Stille zuhören. Montagmorgen, 11. Juni, sie lag im Bett: Du kannst hier nicht weg, nicht aufstehen, nicht zurück. Du kannst nicht, du kannst nicht, du musst. Musst da sein, wenn die Kinder aus der Schule kommen. Sie zog sich an, packte die Sachen, machte sich einen Plan: über den Bergrücken ins nächste Tal wandern, eineinhalb Stunden, den Zug nehmen, wieder zu Hause.

Es war windig, jeder Schritt vom Tal auf den Berg war schwer. Oben, an einem Kreuz, schaute sie über die Wiese ins Tal, nein, es geht nicht, es geht nicht. Es geht nicht so weiter. Der Satz gab Ruhe, da oben auf dem Berg, neben dem Kreuz eine Bank und ein Stein, in weißer Farbe: Im Leben hat in schweren Stunden am Kreuze mancher Halt gefunden, und alle, die Vertrauen hatten, ruhen gut in Kreuzes Schatten.

Weiter ging sie, runter ins Tal, einen Trampelpfad entlang, links vom Pfad ein Fluss. Die Schritte wurden schwerer. So geht's nicht weiter. So wird keiner glücklich. Der Weg wurde schmaler und immer wieder im Kreis: So geht's nicht weiter. Ich kann das jetzt hier beenden. Ich brauche nur ins Wasser zu gehen. Wie mache ich das? Damit mich keiner findet, in den Rucksack einen Stein legen, ihn versenken, ihn hinter einen Baum, im Laub verstecken? Schuhe aus, Schuhe an? "Es war ganz klar" , sagt Sabine, "damit die anderen weiterleben können, braucht es das, damit sie wieder ein Leben haben. Ich bin weitergegangen, warum - das kann ich nicht erklären."

Weiter auf dem Trampelfad, um die Kurve, zum Bahnhof, in den Zug, gegenüber saßen zwei Mädchen, Sabine weinte in sich hinein, Angst vor jeder Minute, die vergeht, nicht vergeht. Sie rief Michael an, sie trafen sich in der Stadt. "Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr, ich kann nicht nach Hause, ich weiß nicht, wie es weitergeht." - "Ruhig, Sabine, du steigst in die Bahn, fährst nach Hause, gehst in die Wohnung, ich komme." Michael brachte die Kinder ins Bett, Sabine packte ein Nachthemd und ihre Zahnbürste in die Tasche, stieg auf ihr Fahrrad, fuhr in eine Klinik, irgendwann kam ein Arzt: "Ich muss hier bleiben." - Sie bleiben hier. Akute Suizidgefährdung? Dann muss ich Sie auf die Geschlossene bringen. Für eine Nacht. Ruhe, endlich, fast ein Jahr lang hatte sie immer das Gefühl gehabt: Bringt mich irgendwo in einen Raum, ich setze mich an ein Fenster, schaue raus; bringt mir dreimal am Tag was zu essen. Bringt mir das, mehr brauche ich nicht. Endlich.

"Wir haben Mama mal besucht", sagt Tina, "ich weiß noch das Zimmer: großes Fenster, ein kleiner Tisch, Blumen. Das war steril, aber nichts Einschüchterndes, nichts Böses, nicht wie ein Gefängnis. Ich sehe, wie Mama da liegt, sie lächelt auch. Mama, du hast doch auch dieses Bild dort gemalt, das mit dem orangeroten Hintergrund, wo du dick ,Leben' draufgeschrieben hast." "Nein, das Bild ist aus der Klinik?", fragt Ellen ungläubig. "Ich weiß noch, wie du es mir gezeigt hast. Ich fand das schon immer total cool."

"Ich habe das Bild auch immer so angehimmelt" , sagt Tina. "Es ist so motivierend", flüstert Ellen. Sabine schluchzt. "Ein weißes Blatt" , sagt sie, "ist für mich ja eigentlich der Horror, aber in der Maltherapie, irgendwann verlor ich meine Scheu, und dann war da so der Moment" , ihre Stimme bricht, "ich habe gedacht: Ich will leben jetzt. Wirklich so trotzig: Ich will leben! Ich dachte an die Familie, die wir kennen, an die drei Kinder, die durch Suizid ihre Mutter verloren haben, und ich dachte: Ich schaff das."

Vors Fenster im Klinikzimmer stellte sie eine Postkarte: Wer unverhofft strandet, hat immerhin die Möglichkeit, Neuland zu entdecken.

Depression ist wie die Dame in Schwarz

Diese Krankheit ist zu heilen, begriff sie. Nicht Sabine wird verrückt, die Sabine existiert noch, sie ist nur manchmal nicht sichtbar, nicht handlungsfähig, manchmal ist Sabine nicht Sabine. Sie steht auf, holt einen Zettel, einen Stift und sagt: In so einer Situation, wo wenig zu greifen ist, da braucht man Haltepunkte, es gibt ja kein Röntgenbild, wo du siehst, daran liegt's, das reparierst du, und dann läufst du wieder. Sie legt das Blatt quer, nimmt den Stift und malt drei Säulen darauf, bei der ersten schraffiert sie ein Drittel, bei der zweiten die Hälfte, die dritte zu drei Viertel. Über die Säulen zieht sie einen Strich und schreibt "Schwellenwert". Uns wurde erklärt, sagt sie, wir Menschen haben eine unterschiedliche Vulnerabilität, ein Mensch mit hoher Vulnerabilität hat wenig Raum für Stress, bevor er die Schwelle erreicht, jemand mit einer geringen Vulnerabilität hat viele Kapazitäten. Wie meine Mutter: Oft habe ich mich gefragt, wie macht sie das, wie steht die 14 Stunden hinter der Theke und geht danach kegeln? Und wieso kannst du mich nach vier Stunden hinter der Theke nur noch in die Ecke setzen?

Sabine hatte eine Antwort, sie sprach mit der Ärztin, überlegte, was sie tun kann, dass sie nicht immer am Limit ist, von Episode zu Episode rutscht. Die Stadt, die vielen Reize, die Straßenbahn, hinter der Theke in der Metzgerei. Dass sie nicht immer über die Schwelle tritt. In ihr Tagebuch aus dem Krankenhaus, ein kleines orangefarbenes Büchlein, hat sie auf die Rückseite des Buchdeckels einen Satz geschrieben: Depression ist wie die Dame in Schwarz. Schick sie nicht weg, sondern bitte sie an deinen Tisch, und hör dir an, was sie zu sagen hat.

So ist die Depression, sagt Sabine. So würdevoll, da kommt keiner ran, so machtvoll, so stark ist sie, sie hat vor keinem Angst, die Dame in Schwarz, sie lässt sich nicht abweisen. Ich habe sie erst klopfen lassen, dann ließ ich sie rein.

"Dame in Schwarz, hmm", sagt Tina, "für mich war es eher eine schwarze Wolke, die über dir war, die alles verdunkelte. Wenn ich merkte, die schwarze Wolke ist da oben, warst du für mich immer ein bisschen unnahbar." "Ich finde es noch heftiger als eine Wolke", sagt Michael, "für mich ist es ein Brunnen, ein schwarzes Loch, wo nie ein Licht durchkommt, und wenn du einen Stein reinfallen lässt, ploppt er nie auf."

Zu Ellen sagte Sabine einmal: "Wenn der Arm gebrochen ist, kann man nicht mit ihm schreiben, er braucht Zeit, um zu heilen. Wenn die Seele gebrochen ist, kann man nicht über einen Witz lachen, sie braucht Zeit, um zu heilen."

"Mama hat am Tisch geweint, wir haben rumgealbert"

Sie verließen die Stadt, zogen aufs Land, kleiner als ein Dorf, in einen Weiler hinter einer Bergkuppe, nicht mal zehn Häuser, 15 Schritte in den Wald. Das Kölsche Grundgesetz gilt auch hier, eine halbe Autostunde von der Stadt, es hängt im Bad, auf einem kleinen Schild. I. Et es, wie et es. II. Et kütt, wie et kütt. III. Et hät noch immer jod jejange. Wenn Karneval ist, schallt Karnevalsmusik durchs Fachwerk, Hey, hey, ho, singt Tina aus dem Bad, Tina geht als Panzerknacker und sagt: Kölner sind die Geilsten. Sabine trägt eine Perücke in grellen Neonfarben und ein rot-weißes Ringelshirt. Hey, hey, ho!

Das Haus im Weiler war Sabines Burg, ihre Trutzburg. Wenn sie raus wollte, schlich sie sich raus, auf den Trampelpfad, unter hohe Bäume.

"Damals beim Essen", sagt Tina, "war Mama nicht immer am Tisch. Wenn sie da war, haben wir ganz normal weitergemacht, sie auch mal weinen lassen. Sie hat oft am Tisch geweint, wir haben einfach geredet, rumgealbert." "Das klingt sicher komisch, es muss sich auch so angefühlt haben für dich", sagt Michael. "Manchmal, Mama, hast du auch gesagt: Nee, es geht nicht. Und dann bist du wieder hochgegangen", sagt Tina.

"Das war ein großes Geschenk", sagt Sabine, "ich durfte dabei sein", ihre Stimme zittert, "ihr habt euch nicht auf meine Stimmung eingelassen, sonst hätte es mir alles noch viel mehr leidgetan."

"Wir haben einfach weitergelacht", sagt Ellen. "Und dann" , meint Tina, "drückte ich manchmal deine Hand, und du gabst ein Lächeln unter Tränen."

"So entstehen ja Regenbögen", sagt Michael, "Sonne und Regen." "Dieses Lächeln" , meint Ellen, "das gab mir Kraft, ich wusste, Mama ist da, Mama kämpft für uns." "Dieses Lächeln, das kostete Kraft", sagt Sabine. "Immer wenn du heulend vor mir standest", sagt Tina, "das fand ich am schwersten, du sagtest immer wieder: ,Es tut mir so leid, ich will euch keine Last sein', und egal, wie oft ich antwortete, ,Mama, du bist keine Last', meine Worte kamen nicht bei dir an. Du warst ja noch nie eine von den Hardcore-Müttern, die nicht weinen, bei jedem Märchen kannst du weinen, bei jedem Film. Das Weinen kannten wir, aber du hast dir immer so viel Schuld gegeben."

Wenn die schwarze Wolke da war, über ihr, dann war der ganze Himmel schwarz, und das Haus war ihr Versteck. Sie versteckte sich, wenn jemand klingelte und überall die Lichter brannten, vielleicht war es die Frau, die die Eier brachte, ein Mann, der die Wasseruhr ablesen wollte. Sie kauerte sich unter das Fenster, legte sich ins Bett, rechte Seite, über den Kopf zog sie eine Kapuze, über die Kapuze einen Schal, dass gerade noch der Mund rausguckt und etwas Luft reinkommt, über den Schal noch die Decke, noch eine und noch eine, eine Schicht schützt die andere. Wenn es tiefschwarz war, kamen nicht mal Tränen. Wenn das Bett nicht genug Schutz gab, versteckte sie sich im Speicher, hinter einem Schrank, und niemand wusste, wo sie war. Im Garten, da versteckte sie sich hinter einer Hecke, und mal hinten bei der Scheune; Michael stand vorn, am Gartenzaun, und redete mit einer Nachbarin, und Sabine wusste nicht, wohin, sie konnte nicht ins Haus, das hätte man gesehen, also duckte sie sich, krümmte sich in den Dreck, hinter einen Holzstapel, bis die Nachbarin weg war. Sabine, sagte Michael, hast du da die ganze Zeit gesessen? Und sie brach in Tränen aus.

"Manchmal", sagt Sabine, "fragte ich mich, ob Michael die Contenance verliert. Diese endlose Toleranz, wenn es sich im Kreis drehte. Du hast nie gesagt: Schon wieder die gleiche Leier."

"Es ging doch um dein Leben", sagt Michael, "wir reden ja nicht davon, dass du eine Erkältung hattest."

Ein Abend damals, es dämmerte schon, die Kinder waren noch in der Schule, sie hatten eine Aufführung, die Großeltern schauten zu, Michael und Sabine waren zu Hause, es wurde dunkler draußen, gleich würden sie kommen, alle zusammen, gut gelaunt, sie würden erzählen, die Worte würden sich überschlagen. Ich kann nicht, ich kann nicht hierbleiben. Sabine stand vor Michael. Michael gab ihr eine Warnweste und eine Taschenlampe: Wenn du nicht kannst, dann geh. Aus dem Haus in den dunklen Wald rannte sie, rannte wie irre, als ginge es um ihr Leben, rannte, wie sie vielleicht noch nie gerannt war und nicht mal gewusst hatte, dass sie so rennen kann. Runter ins Tal, wieder den Berg hoch, und als sie stoppte, lag sie mit dem Gesicht flach am Boden, sie war am Ende, aber sie hatte angehalten; bleiben, hier konnte sie bleiben.

Die Dame in Schwarz, sagt Sabine, sie hatte Sitzfleisch, sie blieb, ganz schön lange blieb sie sitzen am Tisch. "Dass ich aber erkannt habe, wer ich bin, wo ich leben will, dass es nichts für mich ist, hinter der Theke in der Metzgerei zu stehen, dass meine Stärken andere sind, das erfuhr ich durch sie." Die Episoden wurden kürzer, die Abstände zwischen ihnen größer, sie ging nicht mehr zur Therapie, nahm kein Antidepressivum mehr, und die Dame schrumpfte, sie hatte kaum mehr Macht, 2012, da schien es fast, als wäre die Dame nicht mehr da.

Diese Tage im Frühjahr 2012, diese vier Tage, die sind medizinisch nicht einzuordnen. Diese vier Tage, sagt Sabine, die waren der Albtraum, ich hab ihn nicht kommen sehen, er hat mir die Füße weggerissen. Sie lag im Bett, umhüllt, Kapuze, Schal, Decke, verstecken. Weg. Nur weg. Nur wegen mir, wegen mir müssen wieder alle leiden. Sie holte einen Malblock aus der Kommode, DIN A3, und schrieb, wie im Rausch: Ich kann nicht mehr - gegen die ganzen negativen Gedanken ankämpfen …

- ertragen, dass Leichtigkeit sich sooo weit weg anfühlt …

- dass ich kämpfe + kämpfe gegen die Gedanken und am Ende doch verliere …

- bin es sooo leid, immer wieder dieses Häufchen Elend zu sein, das im Schlafzimmer auf der Bettkante sitzt und heult + schluchzt.

Sie lag im Bett und dachte, in nicht so weiter Ferne, da ist eine Brücke, hoch genug, sie könnte zu Fuß gehen, die Straße einfach immer weiter, immer weiter, Warnweste mitnehmen, Warnweste nicht mitnehmen? Und wenn ein Nachbar kommt, wo will sie hin? Du gehst spazieren, um die Zeit? Nur verschwinden. Nur weg.

"Die Depression ist wie unter Wasser"

Die Depression ist wie unter Wasser, sagt Sabine, ist sie schwer, ist es wie Tiefsee, alles schwarz, kein Licht, so war es in den ersten Jahren. 2010, 2011, 2012 aber war das Wasser in den Episoden schon blau, da schwamm sie tief unter der Wasseroberfläche, nur einen Atemzug machen, Sabine, dann wärst du da, sie spürte schon den Wind über sich. Diese vier Tage aber, da war sie wieder unten am Bodengrund, abgetaucht, Tiefsee, sie bekam kaum Luft, und dann tauchte sie, schwups, wieder auf, bin wieder da, wieder Licht.

Wo kam das her, was war das? Wir können das nicht händeln, zu mächtig, sagten Michael und sie. Sabine dachte an die Klinik, da rieten sie mal zu einem Notfallkoffer - einem Notfallkoffer, den man öffnet, wenn es einem die Füße wegreißt: Kontakte, Vertraute, Telefonnummern. Sie suchte sich einen Therapeuten, viermal im Jahr ging sie zu ihm, vorsorglich, um zu wissen: Wenn so was passiert, wenn ich noch mal so tief tauche, kann ich ihn anrufen.

Sie tauchte nie mehr so tief unter. Die Dame in Schwarz ist gegangen, sagt Sabine, sie verschwand, je mehr sich Sabine aus der Burg raustastete, Aufgaben übernahm: Einmal die Woche schmierte sie im Schulkiosk Brötchen, backte Brot für die Nachbarn, sie arbeitete mit Pflegehunden, Schritt für Schritt, seit ein, zwei Jahren, sagt Sabine, ist die Dame nicht mehr im Haus.

"Ich möchte nicht, dass Mama so fühlen muss", sagt Ellen, "diese Angst vor dem Leben, das beinhaltet ja alles, ich stelle mir das so vor, dass es innen drin noch orange war, Mamas Farbe, dass sie aber umhüllt war mit dunkler Farbe."

Tina sagt: "Wenn Mama damals ausgesprochen hätte, dass es uns allen besser ohne sie geht, dann hätte man sie durchschütteln müssen: Das stimmt nicht! Das denkst du doch gar nicht! Ich kann diesen Satz heute gar nicht so ernst nehmen, dass er mich traurig macht, denn es ist nicht Mama, die das gedacht hat, es ist die Depression, die Mama dazu gebracht hat, das zu denken. Aber Mama hatte eine Stimme in sich, die sie abgehalten hat, und ich glaube, diese Stimme waren auch wir."

"Ja", sagt Sabine, "das war nicht ich, und trotzdem waren diese Gedanken da, ganz real, ganz klar, das kann man nicht unterscheiden in dem Moment."

"Es gibt ja auch genug, die den Kampf verlieren" , sagt Michael. Dann fassen sie sich an den Händen, erst Tina und Sabine, dann Ellen, dann Michael. Eine Familie sitzt am Tisch.