Als ein Schriftgelehrter Jesus nach dem höchsten Gebot in der Bibel fragt, antwortet der mit dem Doppelgebot der Liebe. Mit diesem Gebot fasst er die Zehn Gebote zusammen. Demnach sind die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten gleich wichtig. Show
Das höchste Gebot ist das: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft“ (5. Mose 6,4-5). Das andre ist dies: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (3. Mose 19,18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese. Markusevangelium 12,29-31
Dieser Artikel behandelt vor allem das biblische Gebot der Nächstenliebe. Zur allgemeinen Selbstlosigkeit siehe Altruismus und Goldene Regel, zu Mitgefühl siehe Empathie. Als Nächstenliebe wird ein helfendes Handeln für andere Menschen bezeichnet. „Liebe“ beinhaltet hier jede dem Wohl des Mitmenschen zugewandte aktive, uneigennützige Gefühls-, Willens- und Tathandlung, nicht unbedingt eine emotionale Sympathie. Der „Nächste“ kann jeder Mensch in einer konkreten Notlage sein, der einem begegnet. Der Begriff stammt aus einem Gebot der Tora des Judentums:
– (Lev 19,18 EU) Durch die Tora-Auslegung Jesu von Nazaret wurde Nächstenliebe auch ein Zentralbegriff des Christentums, der in der Ethik der Antike neben den Grundwert Gerechtigkeit trat. Heute wird Nächstenliebe weitgehend mit selbstlosem Eintreten für Andere (Altruismus) ohne Rücksicht auf deren soziale Stellung oder Verdienste gleichgesetzt. Dieses gilt nicht als „Begleiterscheinung des Mitleids, sondern eine die fremde Person als etwas Wertvolles intendierendes Fühlen und Streben, ein von Wohlwollen bestimmtes Bezogensein auf den anderen Menschen“.[1] Entsprechende soziale Regeln und Normen sind in den meisten Religionen und Philosophien als ethisches Grundmotiv, die sogenannte Goldene Regel, verankert und als menschliches Verhalten überall anzutreffen. Im Tanach, der Bibel des Judentums, ist das Gebot der Nächstenliebe auf ein vorhergehendes, befreiendes und rettendes Handeln JHWHs, des Gottes der Israeliten, bezogen und soll diesem entsprechen. Sie hat also dieselbe, proexistente Zielrichtung wie das Handeln Gottes selber. Das Gebot gilt im Judentum mit der ganzen Tora (1.–5. Buch Mose) als Wort Gottes und damit als Grundsatz und Leitforderung für das ganze Leben. Für die Rabbiner ist es im Anschluss an die Prophetie im Tanach ebenso wesentlich für den jüdischen Gottesdienst wie die Gottesliebe (siehe Jüdische Ethik). Seine Reichweite wurde seit etwa 200 v. Chr. im Judentum diskutiert: Manche Gruppen schlossen Nichtjuden davon aus, andere bezogen alle Menschen ein.[2] Letztere Deutung setzte sich im Rabbinismus bis etwa 100 n. Chr. durch. Der Begriff des NächstenIm Tanach ist der „Nächste“ immer ein bestimmter, aktuell begegnender oder zum Gesichtskreis eines Israeliten gehörender „Mitmensch“. Die Nähe ergibt sich meist aus einer konkreten Beziehung zu ihm. Das Substantiv reah kann für „Verwandter“ (Ex 2,13 EU), „Nachbar“ (Spr 3,29 EU), „Freund“ (1. Samuel 20,41 EU), „Geliebter“ (Hld 5,16 EU) oder „Anderer“ (Gen 11,3 EU) stehen. Auch dort, wo es im Kontrast zum „Fremden“ ausdrücklich den „Volksgenossen“ meint (Ex 11,2 EU; Ex 12,35 EU), zielt es auf ein allgemeingültiges Verhältnis oder Verhalten (Ex 33,11 EU). Demgemäß übersetzte die Septuaginta das Wort meist mit griechisch pläsion („Anderer, Mitmensch“).[3] In der Tora erscheint reah zusammen mit isch („Mensch“) oder als Objekt bestimmter Sozialgebote für das Bundesvolk Israel: etwa in denjenigen der Zehn Gebote, die das Falschzeugnis gegen den Nächsten und das Begehren seiner Angehörigen und Besitztümer untersagen (Ex 20,16f EU). Sie sind nach der Präambel (Ex 20,2 EU) im Zentralereignis der jüdischen Religion begründet, der Befreiung aus der Sklaverei beim Auszug aus Ägypten. So ist der Nächste zum einen jeder mit den Hebräern befreite und zum Bundespartner Gottes erwählte Israelit, zum anderen tendieren die auf den Nächsten bezogenen Dekaloggebote auf allgemeine Geltung im Bereich der Schöpfung. So macht Gott den als Mitmenschen zu seinem Ebenbild geschaffenen Menschen (Gen 1,26 EU) für die Bewahrung allen Lebens verantwortlich (Gen 2,15.18 EU).[4] Kontext und Sinn des GebotsDas Gebot der Nächstenliebe steht im Zentrum des Kapitels Lev 19 EU im Heiligkeitsgesetz, das wesentliche Grundforderungen Gottes zusammenstellt. Diese reden wie die Zehn Gebote jeden einzelnen Israeliten und zugleich das erwählte Volk insgesamt an („Du … ihr“), sind meist apodiktisch formuliert und betreffen dieselben Bereiche: Elternehrung (19,3.31), Sabbat (19,3b.30), Heiligung des Gottesnamens (19,12), Götterbilder und Fremdkulte (19,4.26–29), Sozialverhalten (19,9–18). Das intendierte Verhalten soll Gottes Heiligkeit entsprechen, der sich nach jüdischem Glauben in der Geschichte offenbart und am Ende durchsetzen wird. Daher ist das Verb auch indikativisch übersetzbar:
Als positives Gegenteil zu all diesen von Gott abgelehnten Verhaltensweisen wird zum Schluss der Reihe Nächstenliebe geboten. Diese soll also eine umfassende Verhaltensänderung in der ganzen Volksgemeinde bewirken. Unrechtes Handeln soll in dem von Gott erwählten Volk dauerhaft überwunden, ausgeschlossen und durch dem Nächsten zugewandtes Handeln abgelöst werden. Dieses wird gegen Hass, Rache und Nachtragen in einem Streit unter Brüdern gestellt und schließt darum Versöhnung mit Feinden ein.[5] Wenige Verse darauf folgt das Gebot der Fremdenliebe (19,33f), das wiederum ausdrücklich mit der Befreiung der Israeliten aus Ägypten begründet und – wie jeder thematische Abschnitt der Reihe und viele Sozialgebote der Tora – mit der Selbstvorstellungsformel Ich bin JHWH bekräftigt wird. Der Kapitelschluss fasst nochmals zusammen: Ich bin der Herr, euer Gott, der euch aus Ägypten geführt hat. Damit wird die Befolgung des hier geoffenbarten göttlichen Heilswillens dem Belieben der Menschen entzogen und für die gesamte Gemeinschaft vor Gott verbindlich gemacht: Die menschliche Nächstenliebe soll dem befreienden und rettenden Handeln Gottes in Israels Geschichte antworten und entsprechen.[6] Schutzrechte für die Armen und FremdenNächstenliebe ist nach dem Eigenkontext des Gebots keine reine Emotion und freiwillige Zusatzleistung, sondern Pflichthandeln jedes Israeliten, das vorrangig den Bedürftigen zugutekommen soll. Deshalb ist sie kein Gegensatz zum „Zurechtweisen“ eines Streitgegners, sondern erinnert diesen an das Lebensrecht der Recht- und Besitzlosen. Sie gilt gerade den Randgruppen, Unterdrückten und Benachteiligten und wird daher in zahlreichen Einzelgeboten konkretisiert, etwa:
Vor der Unterdrückung der Fremden warnt die Tora mehrfach (Ex 22,20–23; 23,6.9). Sie werden den „Witwen und Waisen“, das heißt den mittellosen Randgruppen ohne Versorger, an die Seite gestellt und erhalten wie diese die Zusage, dass JHWH ihr Schreien erhören werde. Sie zu kleiden, zu speisen und zu lieben wird gesondert geboten (Dtn 10,19). Die Ernteabgabe des Zehnten soll alle drei Jahre an die Fremden, die Witwen und Waisen im Land fließen (Dtn 14,28 f). Besonderes Augenmerk widmet die Tora Schutzrechten, die bedrohte Randgruppen vor völligem Ausgeliefertsein schützen sollen. Das Pfandrecht wird durch das Existenzminimum begrenzt, dazu wird das Pfänden des einzigen Mantels eines Obdachlosen verboten (Ex 22,25f EU; Dtn 24,6.10–13 EU). Auch das Verbot des Zinsnehmens (Ex 22,24 EU; Dtn 23,20f EU; Lev 25,35ff EU) dient dem Schutz des Nächsten vor Verschuldung; ausgenommen werden in Dtn 23,21 EU nur ausländische Händler. Im Erlassjahr soll alle sieben Jahre jeder aus Notlagen heraus veräußerte Landbesitz wieder an den ursprünglichen Eigentümer zurückgegeben werden, damit jeder Israelit sein Auskommen hat (Lev 25 EU; Dtn 15 EU).[7] Das Gebot der jüdischen Nächstenliebe gilt allen Menschen, sie umfasst auch den Feind und den Fremden.[8] Tora (ca. 1830), Jüdisches Museum Westphalen, in Dorsten In den vorchristlichen jüdischen Schriften wurden die Toragebote bereits auf Gottes- und Nächstenliebe konzentriert. In den um 200 v. Chr. entstandenen Testamenten der zwölf Patriarchen findet man beispielsweise folgende Aussagen: „Liebet den Herrn in eurem ganzen Leben und einander mit wahrhaftigem Herzen.“ (TestDan 5,3) „… liebt den Herrn und den Nächsten, des Schwachen und Armen erbarmt euch.“ (TestIss 5,1f) „Den Herrn liebte ich und ebenso jeden Menschen mit aller meiner Kraft und von ganzem Herzen. Das tut auch ihr.“ (TestIss 7,6) Die Rabbiner diskutierten den Geltungsbereich von Lev 19,18 um die Zeitenwende intensiv. Der ausgrenzenden Auffassung, der Nächste umfasse nur Mitjuden und Proselyten, stellten andere die Meinung gegenüber, auch Samaritaner gehörten zu den wahren Proselyten (Rabbi Akiba, bQuid 75b) oder Juden (Rabbi Gamaliel, yKet 3,1; 27a). Ein wohl während der jüdischen Aufstände verfasster Traktat (ARN A 16) verwies auf Ps 139,21f EU. Danach habe König David gesagt: Die dich hassen, Herr, will ich hassen … als Feinde gelten sie mir. Daraus wurde gefolgert: Wenn er [der Fremde] wie dein Volk handelt, sollst du ihn lieben, wenn aber nicht, sollst du ihn nicht lieben. Dem widersprachen andere mit Verweis auf Lev 19,17, das Hass gegen den Bruder verbietet; damit sei potentiell jeder Mensch gemeint.[9] Die Nächstenliebe umfasst auch den Feind (Ex 23:4-5; Lev 19:18; Sprüche 20:22,24:17,24:29,25:21-22, Hiob 31:29-30).[8] Mischna und Talmud sammelten diese Dispute der Schriftlehrer zur Gottes- und Nächstenliebe. Einer der bedeutendsten unter ihnen war Hillel, dessen Auslegungen der Talmud denen des Schriftgelehrten Schammai gegenüberstellt:
– Der babylonische Talmud[10] Die hier negativ als Ausschluss von Gewalt und Missgunst formulierte Goldene Regel bezeichnete auch der kurz nach Hillel lehrende Akiba als Hauptregel der Tora. Er verstand Lev 19,18 als „großen umfassenden Grundsatz“, der die Auslegung der übrigen Gebote regieren sollte. Jochanan ben Sakkai sah nach der Tempelzerstörung in den „Liebeserweisen“ einen gültigen Ersatz für die Tempelopfer.[11] Für die meisten Rabbinen impliziert Nächstenliebe Liebe zum „Fremdling“ (Dtn 10,19) und zum Feind, also Langmut, Verzeihen und Vergeltung von Bösem mit Gutem. Die Liebe zum Mitmenschen ist in der jüdischen Tradition verbunden mit einem bleibenden Sinn für die Würde und den Wert jedes einzelnen Menschen als einer Person.[12] In der nachtalmudischen jüdischen Exegese wurde vor allem die Bedeutung des Satzteils „wie dich selbst“ diskutiert. So schrieb der in Aleppo lebende Rabbiner Samuel Laniado nach 1550 dazu:
– Samuel Laniado[13] Dieser Auffassung („Liebe deinen Nächsten, er ist wie du“) folgt auch die deutschjüdische Bibelübersetzung Die Schrift von Martin Buber und Franz Rosenzweig: „Heimzahle nicht und grolle nicht den Söhnen deines Volkes:/ liebe deinen Genossen/ dir gleich/ ICH.“ (ER RIEF 19:18)[14] Das Neue Testament setzt das Toragebot der Nächstenliebe als bekannt und gültig voraus. Jesus von Nazaret nahm am damaligen rabbinischen Auslegungsdisput um die Reichweite des Gebots teil. Neben den synoptischen Evangelien wird es auch in den Paulusbriefen, im Jakobusbrief und den Johannesbriefen öfter zitiert und kommentiert. Das Doppelgebot der LiebeDoppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe (Mt 22,37ff) als Inschrift in der reformierten Predigerkirche, Zürich Auf die Frage eines Schriftgelehrten (grammatikos) in Jerusalem nach dem wichtigsten – ersten – Gebot, die damals im Judentum diskutiert wurde, antwortet Jesus (Mk 12,29 ff EU): Moses mit (neutestamentlich revidierten) Gesetzestafeln, Mt 22,37ff. Evang. Marktkirche Clausthal.
Das erste Gebot wird hier nach Dtn 6,5 EU als Schma Jisrael (Höre Israel, dein Gott ist einer …) zitiert und über die Fragestellung hinaus mit dem Zitat von Lev 19,18 kombiniert. Damit begründete Jesus die im damaligen Judentum schon bekannte Konzentration aller Gebote auf die Gottes- und Nächstenliebe erstmals mit der direkten Gleichstellung dieser beiden Toragebote. Dem entspricht die Zustimmung des Schriftlehrers in Mk 12,32 ff EU:
Dieser Kommentar entspricht Jesu Auslegung des Gebots Du sollst nicht töten (Ex 20,13 EU) nach Mt 5,21–26 EU: Dort wird das Opfern im Tempel ohne vorherige Versöhnung mit dem Bruder, also Gottesliebe ohne Nächstenliebe, zurückgewiesen.
Mit dieser Zusage wird gegen die sonstige Tendenz des Markusevangeliums, die Pharisäer als Jesu Gegner und Verfolger darzustellen, dessen grundsätzliche Übereinstimmung mit dieser Richtung des damaligen Judentums betont. Dem folgen die synoptischen Varianten dieser Erzählung (Mt 22,34–40 EU; Lk 10,25–28 EU). Sie zitieren das Doppelgebot im gleichen situativen Rahmen als Antwort auf die Frage eines nomikos (Gesetzeslehrers) nach dem „größten“ Gebot (Matthäus) oder nach dem Erlangen des ewigen Lebens (Lukas). Für Matthäus fasst Jesu Antwort die ganze hebräische Bibel zusammen: In beiden [Geboten] hängen Gesetz und Propheten. Lukas zufolge stellt Jesus dem Frager die Gegenfrage: Was steht im Gesetz?, so dass das Doppelgebot nicht als besondere Lehre Jesu, sondern als bekannte Lehre der Pharisäer erscheint. Der Dialog wird mit der Anschlussfrage Wer ist mein Nächster? fortgesetzt. Feindesliebe→ Hauptartikel: Feindesliebe In der Bergpredigt (Mt 5–7) nimmt Jesus gegenüber dem Landvolk der von der römischen Besatzungsmacht bedrängten Armen, an das sich die Seligpreisungen richten, auch zum Gebot der Nächstenliebe Stellung und aktualisiert sie als Feindesliebe (Mt 5,43–48 EU):
Die Tora gebietet nirgends Feindeshass, fordert im Gegenteil zur Überwindung von Feindschaft und Rache, damit implizit zur Feindesliebe auf. Exegeten gehen davon aus, dass Jesus sich auf damalige Deutungen bezog, die Nächstenliebe auf Juden begrenzten und zum Widerstand gegen die fremden Besatzer aufriefen, wie es die Zeloten taten. Denn zuvor hatte Jesus in seiner Auslegung des Gebots Auge für Auge zum Verzicht auf Vergeltung gegenüber Unrechtstätern aufgerufen (Mt 5,38–42 EU). Nächstenliebe verlangt demnach für ihn unbedingte Versöhnung gerade mit den gewalttätigen Unterdrückern der Juden und Nachfolger. Dies entsprach prophetischer Tradition seit Deuterojesaja. Diese Tora-Auslegung deutet der jüdische Neutestamentler David Flusser als Ausdruck einer gesteigerten ethischen Sensibilität, die auch damalige jüdische Schriften zeigten.[15] Der barmherzige SamariterRembrandt van Rijn: Der barmherzige Samariter Vincent van Gogh: Der gute Samariter. → Hauptartikel: Barmherziger Samariter Im Lukasevangelium antwortet Jesus auf die Frage des Schriftgelehrten Wer ist denn mein Nächster? – eine Frage damaliger rabbinischer Exegese – mit einer Beispielerzählung (Lk 10,25–37 EU). Sie schildert, wie drei Personen mit dem Opfer eines Raubüberfalls umgehen: Während ein Priester und ein Levit achtlos, ja sogar ausweichend vorbeigehen, versorgt zuletzt ein Samaritaner die Wunden des Beraubten, bringt ihn in eine Herberge und sorgt für seine weitere Pflege. Deutlich ist Jesu Kritik an Vertretern des damaligen Tempelkults: Sie sahen die Samaritaner als keine vollgültigen Juden, da diese den Jerusalemer Tempelkult nicht anerkannten und die dortigen Opfer nicht vollzogen. Jesus stellt dem Hörer die Rückfrage:
Jesus kehrt hier die Blickrichtung des Angeredeten um: Statt den Adressatenkreis der Nächstenliebe einzugrenzen mit der theoretischen Frage Wer gehört zu den Nächsten, auf die sich das Gebot erstreckt, wem also sollte ein Jude helfen?, stößt Jesus ihn auf das akute Notleiden vor seinen Augen: Für wen bin ich der Nächste, wer braucht mich jetzt, wem kann ich helfen? So lädt er ihn ein, aktuell das ihm Mögliche zu tun, das dem Handeln des Samaritaners gleicht. Auch im zeitgenössischen Judentum waren Mitleid und eine „fundamentale menschliche Solidarität“ anerkannte Werte, so z. B. nach Flavius Josephus Ap 2,211f. Neu ist somit an der Erzählung, dass diese Solidarität mit dem Nächstenliebegebot in Verbindung gebracht wird.[16] Hinwendung zu Armen, Kranken und AusgegrenztenMartin von Tours teilt seinen Mantel Jesu eigenes im Neuen Testament dargestelltes Verhalten veranschaulichte für die Urchristen, was Nächstenliebe in seinem Sinne bedeutet. Alle Evangelien heben seine demonstrative bedingungslose Zuwendung zu damals notleidenden, unterdrückten und ausgegrenzten Gruppen hervor. Die „Armen“ aus der „Volksmenge“ (Mt 5,1 EU) sind die ersten Adressaten des Wirkens Jesu.[17] Sie werden oft mit damals unheilbar Kranken (Mk 1,32 EU) aufgereiht: „Blinde, Lahme, Aussätzige, Taube, Tote, Arme“ oder „Arme, Krüppel, Blinde, Lahme“.[18] Beide Gruppen waren nahezu identisch, da Armut, Krankheit und soziale Isolation sich häufig gegenseitig bedingten. Viele Züge der Heilungswunder Jesu zeigen diesen Zusammenhang.[19] Besitzlose Arme hungerten, waren zum Betteln gezwungen und oft nur notdürftig bekleidet oder nackt.[20] Hinzu kamen Gruppen, die wegen ihrer gewollten oder ungewollten Rechtsverstöße auch von Armen verachtet und gemieden wurden: „Zöllner und Sünder“ (Mk 2,15ff EU; Mt 11,16–19 EU; Lk 7,31–35 EU; 18,11 EU), „Prostituierte“ (Mt 21,31 EU), die „Ehebrecherin“ (Joh 8,3–11 EU). Die Nähe, die Jesus gerade zu Angehörigen solcher Gruppen suchte und pflegte, sollte nicht nur ihre Isolation beenden (Mk 1,40–44 EU), sondern auch ihr Verhalten gegenüber ihren Mitmenschen verändern. So gilt sein Gebot des Gewaltverzichts und der Feindesliebe gerade den Juden, die von „Heiden“ akut bedroht, verfolgt und von nach deren Art lebenden „Zöllnern“ beraubt wurden (Mt 5,38–48 EU), während er reiche Grundbesitzer zur Besitzaufgabe zugunsten der Armen einlud und verpflichtete (Mk 10,17ff EU). Die matthäische Textversion zitiert das Gebot der Nächstenliebe abschließend als positives Gegenstück zu den Verboten des Dekalogs (Mt 19,19 EU). Lk 19,8 EU stellt heraus, dass der reiche Zöllner Zachäus aufgrund Jesu Zuwendung sein Raubgut vierfach erstatten und zudem sein halbes Vermögen den Armen schenken wollte, während der reiche Mann in Lk 18,18ff EU eben dazu nicht fähig war. Die Begründung für die Verhaltensänderung liegt für Lk 7,41ff EU im Empfang der Vergebung Jesu.[21] Christi Selbsthingabe als Begründung der NächstenliebeJesus als guter Hirte, 3. Jahrh. Mt 25,40 EU deutet die Werke der Barmherzigkeit christologisch:
Jesus ist demnach in den Armen jeder Zeit gegenwärtig, so dass Nächstenliebe für diese zugleich Gottesliebe ist. An diesem Maßstab würden alle Menschen, Christen wie Nichtchristen, zuletzt im Endgericht gemessen werden. Nicht das richtige Glaubensbekenntnis, sondern das Tun des Willens Gottes – eins der häufigsten Verben im Munde Jesu – sei zuletzt entscheidend (Mt 7,21 EU). Jesus selbst erfüllte nach dem NT diesen Willen Gottes ganz, indem er zuletzt sein eigenes Leben zur Rettung „der Vielen“ aus dem erwarteten Endgericht hingab (Mk 10,45 EU; 14,24 EU). Diese Hingabe fasst Jesu Sendung zusammen (Lk 22,27 EU):
Der Philipperhymnus beschreibt den Dienst Jesu Christi als Machtverzicht des Sohnes Gottes und Selbsterniedrigung in den Kreuzestod zugunsten der Menschlichkeit aller Menschen, damit diese den wahren menschgewordenen Gott erkennen und wie er handeln können (Phil 2,5–11 EU). GemeindebriefeDie Gemeindebriefe fordern immer wieder jeden Christen auf, sich mit all seinen Fähigkeiten und besonderen Gaben für Andere einzusetzen: „Dient einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat …“ (1 Petr 4,10 EU; vgl. Röm 12,3–8 EU) Dies gilt jedoch – entsprechend der Sendung Jesu – weit über den Bereich der christlichen Gemeinde hinaus: „Soviel an euch liegt, so haltet mit allen Menschen Frieden!“ (Röm 12,18 EU) „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ (Röm 12,21 EU) „Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist die Liebe des Gesetzes Erfüllung.“ (Röm 13,10 EU) Hier wie auch in Gal 5,14 EU zitiert Paulus das Gebot der Nächstenliebe ohne das erste Gebot, aber wie Jesus als konkretes Handeln an Notleidenden, das alle sonstigen Gebote der Tora erfüllt und Feindesliebe gegenüber gewalttätigen Verfolgern einschließt. Für den Jakobusbrief ist Lev 19,18 das „königliche Gesetz“, das die Christen gemäß der Schrift ohne „Ansehen der Person“ erfüllen sollen. Nächstenliebe erfüllt hier nicht die übrigen Gebote, sondern mit ihr soll deren Erfüllung beginnen (Jak 2,8 ff EU). Im Johannesevangelium gibt der Abschied nehmende Sohn Gottes seinen Jüngern ein „neues Gebot“: einander zu lieben, wie Gott sie durch Jesus geliebt habe (Joh 13,34 EU u. a.). Durch diese gegenseitige Liebe der Christen sollen alle Menschen Gott in Christus erkennen (13,35 EU). Dem folgend betont der 1. Brief des Johannes die Bruderliebe, die jeden Hass ausschließe; wer seinen Bruder hasse und dem Notleidenden nicht mit all seinem Vermögen, ja seinem Leben helfe, beweise damit, dass er auch Gott nicht lieben könne.[22] Im Ersten Korintherbrief beschreibt Paulus das Wesen und die Wirkung der Liebe (agape), die hier in einer Trias neben Glaube und Hoffnung gerühmt wird; siehe christliche Tugenden. Dieser berühmte Hymnus bezieht sich in erster Linie auf die Liebe, die für Paulus als Wesen Gottes in Jesus Christus letztgültig offenbar geworden ist. Ihr entsprechen auf menschlicher Seite die Nächstenliebe, die Bruderliebe und die gegenseitige Liebe zwischen Mann und Frau.[23]
– Paulus (1 Kor 13,1-13 EU) Guido Reni: Caritas, die tätige Nächstenliebe Die Nächstenliebe, Gemälde von François Bonvin (1851). Augustinus von Hippo (354–430) forderte mit seinem häufig zitierten Satz „dilige, et quod vis fac“ dazu auf, jedes Handeln aus der Liebe heraus zu begründen:
Die wahre Liebe ist für Augustinus die Liebe zu Gott, die Liebe zum Nächsten (caritas). Diese Liebe soll angefacht werden. Die Liebe zur Welt und zur Zeitlichkeit nennt er Begierde (cupiditas). Die Begierde, die das Geliebte zu besitzen trachtet, soll gezügelt werden. Menschen sollen nicht so geliebt werden wie eine gute Mahlzeit, die aufgezehrt wird. Die persönliche Liebe sei vielmehr eine Freundschaft des reinen Wohlwollens. Bei der Feindesliebe soll man nach Augustinus auf das Gute schauen, das in der Natur des Feindes liegt, und noch mehr auf das Bessere, das der Feind noch werden kann. Man liebe in ihm nicht, was er ist, sondern was man wolle, dass er sei. Lieben bedeutet für Augustinus, sich Gott zu nähern und in Gott einzugehen.[25] Augustinus betont die Einheit des Doppelgebotes der Gottes- und Nächstenliebe. Beide Weisen der Liebe entspringen derselben Quelle. Weil Gott Liebe ist, ist die Liebe, die der Mensch ihm entgegenbringt, in seine Liebe zum Nächsten eingeschlossen: „Liebt, wer den Bruder liebt, auch Gott? Notwendigerweise liebt er die Liebe selbst. Kann man etwa den Bruder lieben, ohne die Liebe zu lieben? […] Im Lieben der Liebe liebt man Gott.“[26] Fröhlichkeit in der NächstenliebeMartin Luther (1483–1546) betonte die Bedeutung der Fröhlichkeit:
Die gleiche Liebe gilt Gott und dem NächstenIn seinem Traktat über die Gottesliebe erklärte Franz von Sales (1567–1622):
Den Nächsten von Gott her liebenEine moderne Auslegung ist die Enzyklika Deus caritas est (2005) von Papst Benedikt XVI. Darin führt er aus:
Sich in den Nächsten hineinversetzenHäufig wird der Satzbestandteil des Gebots wie dich selbst so aufgefasst, dass die Eigenliebe der Maßstab der Liebe zum Nächsten sein solle. Dazu schreibt etwa der katholische Theologe Peter Knauer:
Barmherzigkeit als AufgabeDie praktische Umsetzung der Nächstenliebe ist Barmherzigkeit. Im Zusammenspiel mit Feier (Liturgia) und Verkündigung bzw. Zeugnis (Martyria) ist die tätige Nächstenliebe (griech.: Diakonia, lat.: Caritas) einer der drei Grundvollzüge christlicher Gemeinde. Nach christlichem Verständnis wird jemand, der Gottes Liebe und Zuwendung erfahren hat, diese nicht für sich behalten[31], sondern er wird sie an andere Menschen weitergeben. Jesus von Nazaret gilt den Christen dabei als höchstes Vorbild. Nächstenliebe ist in der praktischen Umsetzung der totale persönliche Einsatz für das Wohl des Anderen. Menschen, die in Not geraten sind, brauchen Hilfe. Dass man die Schwachen zu Grunde gehen lässt, wie dies der Sozialdarwinismus lehrt, ist mit dem Gebot der Nächstenliebe nicht vereinbar. Tätige Nächstenliebe ist ein Dienst an den eigenen Mitmenschen (Lk 22,27 EU). Jeder wird aufgefordert, sich nach seinen eigenen Fähigkeiten und Talenten einzusetzen (1 Petr 4,10 EU). Es geht darum, uneigennützig für den anderen da zu sein. Die jeweilige Notlage gebietet, was zu tun ist: Armen-, Kranken- und Altenpflege, Lebenshilfe-, Erziehungs-, Ehe- und Suchtberatung, Gefängnis-, Krankenhaus- und Telefonseelsorge, die Behebung der sozialen Isolierung und Vereinsamung besonders in den Großstädten, die Integration von Menschen ohne ausreichende Sprachkenntnisse. Um diese Aufgaben zu erfüllen, wurden beispielsweise die Caritas und das Diakonische Werk gegründet. Zwar zitiert der Koran das Gebot der Nächsten- und Feindesliebe – anders als andere Toragebote – nicht wörtlich. Doch von Mohammed sind die Sätze überliefert:
Demgemäß ist soziale Wohltätigkeit (Zakat) eine der fünf Säulen des Islam neben dem Glaubensbekenntnis, Gebet, Fasten und der Pilgerfahrt nach Mekka. Ausgangspunkt dafür ist Gottes Gerechtigkeit gegenüber allen Geschöpfen, die den Muslim zu ebensolchem Verhalten verpflichtet. Daher erhält das an sich freiwillige Spenden von Almosen im Koran den Charakter einer festgelegten regelmäßigen Besteuerung des Eigentums, auf deren Erhalt Bedürftige einen Rechtsanspruch haben (Sure 24,56):
Auch deren Adressatenkreis wird festgelegt (Sure 9,60):
Welcher Besitz wie hoch besteuert werden soll, lässt der Koran offen. In der Sunna und der Scharia wurden daher teilweise komplizierte Regelungen für verschiedene Berufs- und Einkommensgruppen getroffen. Als Begründungen für dieses den Bedürftigen zugewandte Handeln nennt der Koran: Dank für die Güte des Schöpfers, die den Ernst des eigenen Glaubens an ihn ausdrückt (Sure 73,20); sichtbare Reue für Versäumnisse und Bitte um Vergebung dafür; Achtung für die muslimische Solidargemeinschaft (Umma), zu der möglichst alle Menschen gehören sollen und können; Ausgleich zwischen Vermögenden und Besitzlosen, um soziale Gegensätze zu verringern; Gottes Recht auf seine Schöpfung, dem die gerechte Verteilung der lebensnotwendigen Güter entspricht; Nach der Erfüllung der von Gott gegebenen Gesetze wird jeder Einzelne im Endgericht beurteilt. Mitmenschlichkeit kann als gottgefälliges Werk angerechnet und mit Gottes Barmherzigkeit erwidert werden.[34] BuddhismusBodhisattva Maitreya verkörpert die allumfassende Liebe Im Buddhismus (ab 5. Jahrhundert v. Chr.) hat Karuna als tätiges Mitgefühl und Erbarmen eine ähnlich hohe Bedeutung, ohne jedoch an ein Gottesgebot anzuknüpfen. Der Begriff umfasst alle Handlungen, die helfen, das Leiden anderer zu verringern. Karuna gründet auf der Erfahrung der Einheit alles Seienden in der Erleuchtung und erstreckt sich unterschiedslos auf alle Lebewesen.[35] In dem Sutta 27 des Itivuttaka findet sich eine Lehrrede des Buddha über die Liebe:
Der japanische Gelehrte Daisetz T. Suzuki erklärte das buddhistische Ideal des Bodhisattva:
Pelikan reißt sich die Brust auf: Symbol der Nächstenliebe Verhaltensbiologisch werden Liebe und Mildtätigkeit in das prosoziale System eingeordnet, dem das agonistische System mit Werten wie Heldentum und Gehorsam gegenübergestellt wird. Auch bei Tieren wird ein moralanaloges Verhalten beobachtet.[38] Gerade kritische Bereiche im Sozialleben werden durch stammesgeschichtliche Anpassung abgesichert. Irenäus Eibl-Eibesfeldt erklärt dazu:
Die Liebe habe sich aus der Brutpflege entwickelt, die auf alle Gruppenmitglieder übertragen worden sei:
Dies entspreche der christlichen Ikonographie, die die Caritas meist mit Kleinkindern und oftmals säugend darstelle. Eine verhaltensbiologische Neigung setze aber den freien Willen nicht außer Kraft und vermöge deshalb auch die Nächstenliebe nicht abschließend zu erklären. Im Belohnungssystem des Gehirns könne Nächstenliebe zur Ausschüttung körpereigener Botenstoffe führen:
Darüber hinaus ist Nächstenliebe als äußerlich von einer Gruppe beobachtbares Handeln wie generell jedes altruistische Verhalten geeignet, auf die Ressourcen und positiven Charaktereigenschaften des Handelnden hinzuweisen und so seinen sozialen Status zu stärken und ihm einen Prestigegewinn zu verschaffen.[42] Immanuel Kant Die neuzeitliche Philosophie grenzte sich seit dem Zeitalter der Aufklärung zunehmend gegen die an partikulare Glaubensbekenntnisse gebundene kirchliche Dogmatik und Ethik ab und versuchte, eine allgemeingültige Ethik des sozialen Miteinanders rational in menschlicher Einsichtsfähigkeit und gutem Willen zu begründen. So hat Immanuel Kant das auf das Wohl des Nächsten bezogene, vom guten Willen gesteuerte Handeln formal mit dem kategorischen Imperativ begründet:
Darin ist vorausgesetzt, dass Menschsein nur als auf anderes Menschsein angewiesen und als auf das Allgemeinwohl ausgerichtete Solidarität denkbar und wünschenswert ist. Für Kant gründet das Gebot der Nächstenliebe im kategorischen Imperativ:
Dass das rationale Denken allein diese grundlegende menschliche Solidarität mit anderen Menschen nicht begründen kann, vertrat Irene Harand 1935 in ihrer frühen Analyse der Ideologie Adolf Hitlers:
Nietzsche um 1875 Friedrich Nietzsche hat die Nächstenliebe als dekadent bezeichnet:
– Friedrich Nietzsche[46] Sigmund Freud kritisierte das Liebesgebot als Überforderung. In seinem grundlegenden Essay Das Unbehagen in der Kultur (1929/1930) bezeichnete er es als „… die stärkste Abwehr der menschlichen Aggression und ein ausgezeichnetes Beispiel für das unpsychologische Vorgehen des Kultur-Über-Ichs. Das Gebot ist undurchführbar; eine so großartige Inflation der Liebe kann nur deren Wert herabsetzen, nicht die Not beseitigen.“[47] Hans Jonas erklärte in seinem Hauptwerk Das Prinzip Verantwortung (1979), das christliche Liebesgebot greife zu kurz und sei auf den unmittelbaren Umkreis der Handlung begrenzt: „Man beachte, daß in all diesen Maximen der Handelnde und der ‚Andere‘ seines Handelns Teilhaber einer gemeinsamen Gegenwart sind. Es sind die jetzt Lebenden und in irgendwelchem Verkehr mit mir stehenden.“[48] Dies reiche angesichts der ökologischen Krise und der technischen Möglichkeit, die Menschheit dauerhaft auszulöschen, als Handlungsmaxime nicht mehr aus. Mit dem Wandel der Technik müsse die Ethik zur „Fernstenliebe“ erweitert werden. Jonas formulierte einen „ökologischen Imperativ“: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“[49] Allgemein
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