Wie viele geflüchtete haben bei dem Versuch nach Spanien zu kommen ihr Leben verloren?

Von Hans-Christian Rößler, Madrid

Erstversorgung von Migranten nach der Ankunft am 4. Januar in Arguineguin auf Gran Canaria Bild: EPA

Spanien ist für Migranten aus Afrika zum wichtigsten Tor nach Europa geworden. 2020 kamen dort so viele Migranten an wie in keinem anderen Land der EU. Spanien ist damit hoffnungslos überfordert.

Seit Beginn des Jahres 2021 haben schon mehr als 300 Migranten die spanischen Kanareninseln über die gefährliche Atlantik-Route erreicht. Insgesamt 23.023 waren es im vergangenen Jahr. Wie viele Menschen auf der Überfahrt ihr Leben verloren, bleibt ungewiss. Mindestens 2170 Menschen kamen nach einer Zählung der spanischen Hilfsorganisation „Caminando Fronteras“ im Jahr 2020 bei dem Versuch ums Leben, auf dem Seeweg nach Spanien zu gelangen. Das sind 143 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum des vergangenen Jahres. Auf der Route in Richtung Kanaren waren es demnach 1851 Tote. „Das sind die schlimmsten Zahlen, seit wir mit unserer Überwachung begonnen haben. Wir sind uns bewusst, dass es noch viele weitere Opfer geben könnte“, sagt Helena Maleno von „Caminando Fronteras“. Die Organisation verfügt über ein eigenes Notrufsystem und enge Kontakte in die meisten Herkunftsländer.

Die Internationale Organisation für Migration (IOM) zählte im vergangenen Jahr 872 Personen, die auf dem Weg nach Spanien umkamen oder verschwanden. Dabei handele es sich um eine „Minimalschätzung“, weil viele Schiffsunglücke undokumentiert blieben.

Spanien ist für Migranten aus Afrika im vergangenen Jahr zum wichtigsten Tor nach Europa geworden. Nach den jüngsten Angaben des spanischen Innenministeriums erreichten 2020 insgesamt 41.861 Menschen das Land, mehr als die Hälfte davon kam auf den Kanaren an. Trotz der Pandemie, die bis zum Sommer die Welt weitgehend zum Stillstand gebracht hatte, verzeichnete Spanien mehr Migranten als im Vorjahr (32.513) – und die meisten in der gesamten EU: In Italien wurden laut IOM 34.100 Migranten registriert, in Griechenland 15.500, in der ganzen EU waren es 94.177.

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2021 könnte es ähnlich weitergehen, auch wenn die Zahl der Neuankömmlinge im Dezember leicht abgenommen hatte, nachdem sie im November allein auf den Kanaren noch bei mehr als 8000 gelegen hatte. Anfangs stammte noch eine größere Zahl von Migranten aus weit entfernten Ländern wie Mali, Senegal und der Elfenbeinküste. Inzwischen stellen die mehr als 11.000 Marokkaner knapp die Mehrheit. Auch aus Algerien kommen immer mehr Menschen – allerdings über das Mittelmeer – nach Spanien. Mehr als 11.000 waren es laut dem Internetportal „El Confidencial“ – so viele wie noch in keinem Jahr zuvor. Sie stellen die zweitgrößte Gruppe unter den Neuankömmlingen. Immer mehr Algerier fliehen vor der politischen und wirtschaftlichen Dauerkrise in ihrer eigentlich rohstoffreichen Heimat, die schon vor Corona stark unter dem Verfall des Ölpreises gelitten hatte.

Für die meisten Lateinamerikaner kein Visum nötig

Die Rückführung der Algerier und Marokkaner verläuft schleppend, obwohl Spanien mit beiden Staaten entsprechende Abkommen geschlossen hat. Seit Anfang Dezember fliegt laut Presseberichten die marokkanische Fluggesellschaft „Royal Air Maroc“ mit bis zu vier Flügen wöchentlich jeweils etwa 20 Migranten nach El Ayoun in der von Marokko annektierten Westsahara; angeblich bewachen sie fast doppelt so viele Polizisten.

Doch die dramatischen Bilder der hölzernen Cayucos und Pateras geben nur einen unvollständigen Eindruck von der Lage in Spanien. Die meisten Migranten reisen zunächst legal als Touristen in einem Flugzeug ein – denn für die meisten Lateinamerikaner verlangt die ehemalige Kolonialmacht kein Visum. Viele wollen jedoch nicht nur die erlaubten drei Monate bleiben und bitten um Asyl. Auch hier führt Spanien die europäische Statistik an.

Rund 120.000 unbearbeitete Anträge

Trotz der massiven Einschränkung der Bewegungsfreiheit wurden im vergangenen Jahr 84264 Anträge registriert, die meisten davon von Venezolanern, Kolumbianern und Honduranern. Das sind 21 Prozent aller Anträge, die in der EU gestellt werden, wie die Zeitung „El País“ berichtet, die auf Angaben des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (Easo) von Anfang Dezember zurückgreift. Spanien liegt damit in der EU vor Frankreich und Deutschland.

Spanien ist von dem Ansturm von Asylbewerbern und Migranten völlig überfordert. Das Asylsystem stand schon vor dem Beginn der Pandemie am Rande des Zusammenbruchs. Vor einem Jahr stapelten sich in den Behörden rund 120.000 unbearbeitete Anträge. Auch die wenigen Unterkünfte sind hoffnungslos überfüllt. Mehr als 8000 Asylbewerber warten auf dem Festland auf einen Platz. Auf den Kanaren ist die Regierung weit von ihrem Versprechen entfernt, alle Neuankömmlinge in eigenen Einrichtungen unterzubringen. Bis zu 7000 Personen leben immer noch in Hotels und Ferienapartments.

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Die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union setzt in erster Linie auf Abschreckung und schnelle Abschiebung. Der Umgang mit Asylsuchenden ist über Jahre von einer humanitären Aufgabe zu einer Frage der inneren Sicherheit gemacht geworden – mit schwerwiegenden Konsequenzen.

Von Benjamin Dierks | 17.01.2021

Wie viele geflüchtete haben bei dem Versuch nach Spanien zu kommen ihr Leben verloren?

Viele Geflüchtete sind wochenlang unterwegs (picture alliance/AP Photo | Amel Emric)

Zlatan Kovacevic ist fast jeden Tag unterwegs in der hügeligen Region an der bosnischen und kroatischen Grenze. Er ist einer der wenigen in seiner bosnischen Heimatstadt Bihac, die dort gestrandeten Flüchtlingen helfen. Tag und Nacht ist er bereit, um bei Alarm ins Auto zu springen, um Flüchtlingen in Not beizustehen – Menschen, die versucht haben, über die kroatische Grenze in die EU zu gelangen. Manche Einsätze wie diesen dokumentieren sie mit Videoaufnahmen.
"Unsere erste Aufgabe ist es, auf einen Anruf mit Informationen über einen Pushback zu warten. Diese Informationen bekommen wir von der Grenzpolizei oder von Leuten, die in den Bergen wohnen. Manchmal müssen wir Leute belohnen mit kleinen Geschenken, damit wir diese Informationen bekommen."

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Ringen um die EU-Migrationspolitik - Europas Werte, Europas Versagen
Das inzwischen abgebrannte Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos ist längst zur Chiffre einer gescheiterten europäischen Flüchtlingspolitik geworden. Weiterhin sterben täglich Menschen auf ihrer gefährlichen Flucht nach Europa. Doch bei Begriffen wie Solidarität ist die EU tief gespalten.

Sobald ein Anruf kommt, fahren Kovacevic und seine Mitstreiter los. Sie suchen das Gebiet an der Grenze zu Kroatien nach Menschen ab, die von der kroatischen Grenzpolizei mit Gewalt wieder nach Bosnien und Herzegowina zurückgebracht werden. Pushbacks werden diese illegalen Zurückweisungen an der Grenze der Europäischen Union genannt. Manche schafften es bis nach Slowenien oder Italien, berichtet Kovacevic. Aber selbst so tief im Innern der EU würden sie noch aufgegriffen und an die Grenze zurückgebracht. Dann seien sie oft schon zwei Wochen oder länger zu Fuß unterwegs gewesen. "Das Gehen dauert 14, 15 Tage. Die letzten drei, vier Tage laufen sie ohne Essen. Sie essen, was sie im Wald finden." Oft fehlen warme Kleidung und feste Schuhe. Von den Grenzern würden sie in diesem Zustand irgendwo im unwegsamen, bergigen Gelände entlang der grünen Grenze zurückgelassen, berichtet Kovacevic. Tausende solcher Fälle haben Hilfsorganisationen registriert.

"Wir möchten so schnell wie möglich zu diesen Leuten, sie erst ein bisschen beruhigen. Dann geben wir ihnen medizinische Hilfe, dann Essen, dann Schuhe."

Für Kovacevic selbst sind die Einsätze selbst eine große Anstrengung, weil er im Bosnienkrieg ein Bein verloren hat. Aber die Erfahrung helfe ihm, mit den Flüchtlingen zu fühlen, sagt er. Viele von ihnen würden von den kroatischen und damit EU-Grenzpolizisten schwer misshandelt. "Geschlagen, manchmal finden wir Leute ohne Zähne mit verletzten Mündern, mit Verletzungen an Armen oder am Kopf." Den täglichen Versuch, über die bosnisch-kroatische Grenze zu gelangen, nennen sie hier "the Game", das Spiel. Ein zynisches Spiel, bei dem als Gewinn der Verbleib in der EU lockt, mit dem Risiko, zu erfrieren, zu verhungern oder schwer misshandelt wieder auf "Start" geworfen zu werden. Ein Spiel, bei dem die EU tatenlos zuschaue, sagt der Migrationsforscher und Soziologe Gerald Knaus. "Wir haben an der bosnisch-kroatischen Grenze seit vielen Jahren und im letzten Jahr ganz besonders häufig detaillierte Berichte über irreguläres, illegales Vorgehen von Sicherheitskräften in Kroatien, Männer in schwarzer Uniform mit Balaclavas (Sturmhauben, Anm. d. Redaktion), die Migranten aufgreifen, misshandeln und dann über die Grenze nach Bosnien zurückstoßen, wo sie mit Verletzungen in den Spitälern in Nordwest-Bosnien ankommen." Hunderte harren hier nicht nur in offiziellen Flüchtlingslagern wie dem Camp Lipa in der Nähe von Bihac aus, das vor Weihnachten abbrannte und — teils wiedererrichtet — nicht annähernd ausreicht. Sie kampieren auch in ausgedienten Fabrikhallen und in selbst aufgebauten Zeltlagern im Wald, im Volksmund Dschungelcamps genannt. Wie auch an anderen Grenzen der EU sind sie dem Winter nahezu schutzlos ausgeliefert.

"Wir haben auf den griechischen Inseln eine ähnliche Situation. Wir haben ein neues Aufnahmezentrum auf Lesbos nach dem Brand von Moria, von dem jeder Experte vom ersten Moment an wusste — und ich habe damals mit vielen gesprochen, auch vor Ort — dass dort eine menschenwürdige Unterkunft nicht möglich sein wird. Trotzdem werden Menschen dort im Winter bei Regen, bei Kälte dort festgehalten. Das ist kein Versagen, das ist kein Scheitern schwacher Staaten. Es fehlt auch nirgendwo an Geld. Das ist Absicht."

Migrationsforscher Knaus hatte in den wesentlichen Grundzügen die Idee für das EU-Türkei-Abkommen entwickelt, das 2016 verhindern sollte, dass Menschen aus der Türkei über das Mittelmeer nach Griechenland fliehen. Nachdem das Abkommen scheiterte und die Türkei im März 2020 ihre Grenzen nach Europa wieder öffnete, versprach EU-Migrationskommissar Margaritis Schinas, dass die EU nun Solidarität mit Griechenland zeigen und die Grenzen gemeinsam verteidigen könne. Doch von Solidarität ist nicht viel zu spüren. Der Schutz der Grenzen verkommt zu einer immer offener zur Schau getragenen Abwehr von Menschen, die versuchen, in die EU zu gelangen — in Kroatien, Ungarn und Griechenland ebenso wie vor Malta, Lampedusa oder den kanarischen Inseln.
"Wenn wir das als Gesamtbild sehen, dann merken wir, dass an allen diesen Grenzen die Europäische Union an den gleichen Fragen scheitert und zunehmend an allen diesen Grenzen auf die gleichen Methoden zurückgreift. Und die lauten: Abschreckung durch schlechte Behandlung und zunehmend an immer mehr Grenzen auch illegales Zurückstoßen von irregulären Migranten. Und so sehen wir, dass es ein systemisches Problem ist, das eine neue Art des Herangehens und eine neue Art des Denkens fordert."

Auch der EU-Grenzschutzbehörde Frontex wird vorgeworfen, sich an Pushbacks in der Ägäis beteiligt zu haben. Unter anderem der "Spiegel" und die ARD berichteten im Oktober darüber. Videoaufnahmen zeigen Frontex-Schiffe, die zumindest dabei sind, während griechische Grenzpatrouillen Schlauchboote in türkische Gewässer abdrängen. Frontex-Chef Fabrice Leggeri bestritt die Vorwürfe zu Beginn des Jahres, als er im Innenausschuss des EU-Parlaments aussagte. In der vergangenen Woche befragte ihn auch der Innenausschuss des Bundestages. Zudem wurde in der vergangenen Woche bekannt, dass die EU-Betrugsbekämpfungsagentur OLAF neben anderen Anschuldigungen auch das mögliche Fehlverhalten der Grenzbeamten im Mittelmeer untersucht. Neu wären solche Rechtsbrüche der EU-Agentur nicht. Bereits 2013 hatte der damalige Frontex-Chef Ilkka Laitinen eingeräumt, dass die Grenzschützer an Pushbacks beteiligt gewesen seien. Die Vorwürfe seien besonders heikel, weil EU-Einrichtungen wie Frontex oder die europäische Asylagentur EASO in der gemeinsamen Asylpolitik der EU eine größere Rolle spielen sollen, sagt Petra Bendel, Vorsitzende des Sachverständigenrats für Integration und Migration. "Je mehr Macht die europäischen Agenturen haben, dazu gehört Frontex, dazu gehört aber auch EASO, und das wollen die Mitgliedsstaaten, das betrifft die Grenzsicherung, das betrifft aber auch die Unterstützung im Asylverfahren durch EASO, je mehr Macht also diese Agenturen haben, desto mehr Kontrolle brauchen sie." Bendel wird ab diesem Jahr zusätzliches Gewicht in der deutschen Migrations- und Integrationspolitik zukommen, denn ihr Sachverständigenrat ist nun offizielles Beratungsgremium der Bundesregierung, ähnlich den sogenannten Wirtschaftsweisen. Dass die Absicherung der Außengrenzen eine dominante Rolle in der gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik der EU spielt, führt Bendel auf deren Anfänge vor rund 30 Jahren zurück. "In dem Moment, wo Schengen beschlossen wurde und die Grenzkontrollen im Innern der Europäischen Gemeinschaft, der späteren Europäischen Union dann wegfielen, beschlossen die Mitgliedsstaaten, dass sie diesen freien Personenverkehr kompensieren sollten durch eine stärkere Kontrolle der Außengrenzen. Das ist also die Genealogie der gemeinsamen europäischen Asylpolitik." Lockerung im Innern, Sicherung nach außen. Diese stärkere Kontrolle der Außengrenzen war noch eine Koordination der Mitgliedsstaaten, keine tatsächliche gemeinsame EU-Politik. Eine staatsübergreifende Asylpolitik entstand 1999, als die Mitgliedsstaaten den Vertrag von Amsterdam schlossen. Teil davon war der Versuch, die Visa-, Asyl- und Einwanderungsgesetze der Mitgliedsstaaten zu harmonisieren. "Nichtsdestotrotz blieben erst mal für einen Übergangszeitraum von zunächst fünf Jahren die Akteure die Innenminister. Und wenn man auf die Akteure guckt und fragt, welche Ideen haben die Innenminister vor allem im Kopf, dann sind die natürlich zunächst immer an der Sicherheit ihrer eigenen Staaten orientiert. Und so lässt sich erklären, dass die Sicherheit bis heute einen sehr starken Fokus der europäischen Asylpolitik bildet." Der politischen Annäherung folgte die Sicherheitstechnik. Mit EURODAC schufen die Europäer ein System, um Fingerabdrücke von Asylbewerbern abgleichen zu können. Niemand sollte mehr als einmal Asyl beantragen können. Ein erster Schritt auf einem langen Weg von Neuerungen, sagt Matthias Leese, Experte für Sicherheitstechnik vom Center for Security Studies in Zürich.

"Es gibt eine sehr stringente Entwicklung auf europäischem Level, die sich seit den frühen 2000ern entwickelt hat, und das ist die immer stärkere technische Aufrüstung."

Ab dem kommenden Jahr soll das Einreise/Ausreise-System die Fingerabdrücke und Gesichtsbilder von Reisenden aus Drittstaaten aufnehmen. 2013 rief Frontex das Überwachungssystem EUROSUR ins Leben: Mit Drohnen, Aufklärungsgeräten, Satellitensystemen, Offshore-Sensoren und hochauflösenden Kameras hat die Agentur die Grenze so immer im Blick. "Die grüne Grenze abseits von Flughäfen, abseits von Häfen, abseits von Straßen, die wird immer stärker überwacht, um eben zu sagen: Wir fangen irreguläre Migration schon ab, bevor die Leute europäischen Boden erreichen." Und somit auch bevor sie einen Antrag auf Asyl stellen können. Die Sicherheitssysteme werden fortlaufend weiterentwickelt. EURODAC soll nun mit anderen Erkennungssystemen zusammengeführt werden. Neben Fingerabdrücken werden dann auch Gesichtsbilder von Einreisenden aus Drittstaaten gespeichert. Daten werden auch mit Ländern außerhalb der EU geteilt, um irreguläre Einwanderer aufzuspüren.

"Es gibt weltweit eine Entwicklung, die Migration immer stärker zur Sicherheitsfrage macht. Es werden Richtlinien und Verfahren geschaffen, um künftige Gefahren vorherzusehen. Und die Mobilität bestimmter Menschen wird als möglicher Gefahrenherd ausgemacht. Diese Menschen werden in der Regel nach ethnischen Merkmalen und nach ihrem Geschlecht unterschieden, und sie werden als unproduktiv für den kapitalistischen Arbeitsmarkt gebrandmarkt. Daraufhin werden Möglichkeiten geschaffen, um ihre Einreise zu verhindern, einzudämmen und zu regulieren."

Wie viele geflüchtete haben bei dem Versuch nach Spanien zu kommen ihr Leben verloren?

Italiens Migrationspolitik - Neue Routen, alte Probleme
Seit Jahresbeginn sind in Italien viermal so viele Flüchtlinge angekommen wie 2019 im gleichen Zeitraum. Viele von ihnen schlagen über Tunesien eine neue Route ein. Die Regierung arbeitet an einer neuen Migrationspolitik – und fühlt sich weiterhin von der EU alleine gelassen.

Sagt Sanja Milivojevic, Kriminologin an der La Trobe University in Melbourne, die sich intensiv mit der Überwachung von Grenzen befasst hat. Migranten werden mit verschiedenen Gefahren in Verbindung gebracht, mit Terrorismus und Kriminalität, vor allem während der COVID-19-Pandemie mit Gesundheitsrisiken. Sie gelten als zusätzliche Belastung der Sozialsysteme und als Bedrohung für einheimische Werte und Identität. Fälle wie der Attentäter vom Weihnachtsmarkt 2016 auf dem Berliner Breitscheidplatz, Anis Amri, scheinen die Vorbehalte zu bestätigen. Der Tunesier soll 2015 eingereist sein und mehrmals Asyl beantragt haben. Aus der Sicherheitsperspektive seien Flüchtlinge hingegen zunächst nicht gefährlicher als etwa Touristen, sagt Matthias Leese. Dennoch würden sie so dargestellt. "Dass man sagt, die Menschen, die zu uns kommen, die sind nicht mehr schutzbedürftig, sondern sie sind gefährlich. Und das ist eine argumentative Umkehr, die sehr weitreichende Folgen hat. Man sieht den einzelnen Menschen nicht mehr als ein Schutzobjekt an, sondern als eine potenzielle Bedrohung. Auf diesem geänderten Fundament findet dann natürlich eine veränderte Auseinandersetzung mit Migration statt: Wir verstärken die Grenzen, wir reformieren unsere Datenbanken, es wird stärker Wert gelegt auf den Informationsaustausch zwischen den Grenz- und Polizeibehörden der Mitgliedsländer." Diese pauschale Beurteilung reicht weiter zurück als die sogenannte Flüchtlingskrise von 2015 oder die Anfänge der gemeinsamen EU-Asylpolitik. Eine Herabsetzung von Flüchtlingen half schon, die Asylrechtsverschärfung in Deutschland Anfang der 90er-Jahre durchzusetzen. Bevor Politiker der schwarz-gelben Regierungskoalition im Bundestag am 26. Mai 1993 mit Stimmen der oppositionellen SPD für die entsprechende Grundgesetzänderung stimmten, hatten sie Asylsuchende kurzerhand zum Sicherheitsrisiko erklärt, wie der Bericht der Tagesschau von diesem Tag zeigt.

"Redner der Regierungskoalition und auch der SPD-Opposition begründeten die Änderung des Grundrechts auf Asyl mit dem Missbrauch des Asylrechts. Nach ihren Worten gefährdet die hunderttausendfache Zuwanderung nach Deutschland den inneren Frieden."

In den zwei Jahren zuvor hatte ein rassistischer Mob ein Heim für Vertragsarbeiter in Hoyerswerda und ein Asylbewerberheim in Rostock mit Brandsätzen angegriffen und die Bewohner unter dem Beifall von Anwohnern in akute Lebensgefahr gebracht. Bei einem Brandanschlag auf das Haus einer türkischen Familie in Mölln waren drei Menschen ermordet worden. Zwei Tage nach dem Asylrechtsbeschluss im Bundestag wurden bei einem rassistischen Brandanschlag in Solingen fünf Menschen ermordet. Den inneren Frieden des Landes aber gefährdeten in den Augen der Bundestagsmehrheit die Asylsuchenden. Die Sorge um den inneren Frieden brachten Politiker auch 2015 an, als viele Flüchtlinge versuchten, über die sogenannte Balkanroute nach Europa zu gelangen und Deutschland einen Großteil von ihnen aufnahm. Die Erfahrung der sogenannten Flüchtlingskrise präge die europäische Asylpolitik bis heute, sagt Migrationsforscher Gerald Knaus. "Es hat sich in den Köpfen Vieler — und das sieht man ganz klar in Italien ebenso wie in Griechenland und anderen Ländern der EU — festgesetzt, dass es eigentlich nur zwei Alternativen gibt: entweder jede oder jeder, der mit einem Boot über das Mittelmeer kommt, wird aufgenommen. Oder man greift auf das zurück, was Viktor Orban und Sebastian Kurz das Australische Modell nennen, also Abschreckung durch schlechte Behandlung. Wenn immer mehr Entscheidungsträger — manche mit Freude und manche zerknirscht, das Gefühl haben, man muss zwischen inhumaner Abschreckung und unkontrollierten Grenzen wählen, dann ergibt sich das, was wir heute sehen, fast automatisch." Daran dürfte auch der jüngste Reformvorschlag der EU-Kommission wenig ändern. Das lassen die bestenfalls verhaltenen Reaktionen aus Politik, Wissenschaft und von den Mitgliedsstaaten erkennen. Der lang erwartete Plan sollte das Dublin-System ablösen, wonach Menschen in dem Land Asyl beantragen müssen, in dem sie zuerst EU-Boden betreten haben. Das belastete vor allem südliche Grenzstaaten wie Griechenland, Spanien, Malta und Italien. Zudem sollte er einen Kompromiss schaffen zwischen den Interessen dieser südlichen EU-Mitglieder, der zentral- und nordeuropäischen Länder, in die viele Neuankömmlinge weiterziehen, und den vor allem osteuropäischen Staaten, die gar keine Flüchtlinge aufnehmen wollen. Das biete der Vorschlag aber nicht, sagt Birgit Sippel, die innenpolitische Sprecherin der SPD-Abgeordneten im Europa-Parlament, in einer Online-Debatte des Center for Human Rights Erlangen-Nürnberg.

"Aus meiner Sicht ist der Vorschlag eben kein europäischer Vorschlag, weil er an viel zu vielen Stellen die Verantwortung an die Mitgliedsstaaten gibt und auf nationale Gesetzgebung verweist. Das es trotzdem viel Kritik bei den Mitgliedsstaaten gibt, führt mich natürlich nicht dazu, dass ich sehr hoffnungsfroh bin, dass wir schnell zu einer Einigung kommen werden, zumal das Kriterium des Ersteinreisestaates, also das, was ursprünglich in Dublin festgeschrieben war, mit den neuen Vorschlägen aus meiner Sicht eher noch verschärft wird, was zu noch größeren Herausforderungen für die Ersteinreisestaaten führen kann."

Der Kommissionsvorschlag sieht vor, alle, die unerlaubt die Grenze überschritten haben, vor dem eigentlichen Asylverfahren unter anderem nach Herkunftsländern zu sortieren und jene, die wenig Aussicht auf ein Bleiberecht haben, sollen einem Schnellverfahren unterzogen werden. Experten kritisieren vor allem, dass die Verantwortung dafür wie bereits im Dublin-Verfahren, weiterhin den jetzt schon überforderten Mitgliedsstaaten zukomme — ohne Aussicht, dass sie die beschleunigten Verfahren künftig besser bewältigen als die bisherige Prüfung. Malta, Italien, Spanien und Griechenland haben Ende des vergangenen Jahres eine gemeinsame Stellungnahme aufgesetzt, in der sie ihren Verdruss deutlich machten. Auch ist nicht klar, wie und auf welcher rechtlichen Grundlage Menschen für die Zeit der Vorabprüfung an der Grenze festgehalten werden sollen. Das Fazit von Petra Bendel, der Vorsitzenden des Sachverständigenrats für Migration: "Die Vorschläge der Europäischen Kommission sind doch insgesamt sehr enttäuschend, denn gerade da, wo es um die Sicherung der Grundrechte in Verfahren an den Außengrenzen geht, ist sie zu kurz gesprungen." Keine Mühen scheute die EU-Kommission, um die unschönen Seiten der gemeinsamen Asylpolitik kreativ zu verpacken. Wer wie Ungarn partout keine Flüchtlinge aufnehmen will, erhält nun endgültig den Segen dafür und darf stattdessen eine sogenannte "Rückführungspatenschaft" übernehmen und für die Abschiebung abgelehnter Asylsuchender sorgen. Der Begriff wurde prompt zum Unwort des Jahres gewählt. Die Politik der EU habe weiterhin eine deutliche Schlagseite, sagt der Asylrechtsexperte Daniel Thym von der Universität Konstanz. "Der Umstand, dass die Europäer es eben nicht schaffen, schnelle und faire Verfahren an den Außengrenzen oder sonst wo zu realisieren, führt dazu, dass sie einseitig auf eine Karte setzen. Und diese eine Karte sind nicht die offenen Grenzen, sondern es ist die Auslagerung der Kooperation an die benachbarten Staaten."

Die EU setzt also vorerst weiter auf Sicherheit — nicht in erster Linie auf Sicherheit für Migranten, sondern auf Sicherheit vor ihnen.