Wie lange kann man ohne Schilddrüsenhormone leben?

Ist ein Leben ohne Schilddrüse möglich? Ja. Doch müssen sich Patienten, denen während einer Operation die Schilddrüse entfernt wurde, mit einigen Herausforderungen und Umstellungen auseinandersetzen. Zum Beispiel durch die Einnahme von Medikamenten.

Leben ohne Schilddrüse: Hormonbehandlung lebenswichtig

Ein Leben ohne Schilddrüse ist oft die Konsequenz einer Krebserkrankung. Nach der Schilddrüsen-OP (totale Thyreoidektomie) ändern sich einige Dinge im Alltag der Patienten. So sind regelmäßige Arztbesuche normalerweise notwendig. Da die Schilddrüse eine wichtige Hormondrüse ist, die für den Körper lebensnotwendige Hormone produziert, müssen diese Hormone fortan durch Medikamente zugeführt werden.

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Die Folgen einer Nichteinnahme der Medikamente können vielfältig ausfallen. Denkbar sind etwa Konzentrationsstörungen, Gewichtsveränderungen, Gedächtnisprobleme sowie Müdigkeit und Antriebslosigkeit. Auf lange Sicht hätte es auch Auswirkungen auf die körperliche und geistige Gesundheit, da viele Funktionen in Mitleidenschaft gezogen werden oder sogar ganz zum Erliegen kommen würden, erklärt das Wissensmagazin "Planet Wissen" in einem Online-Bericht.

Nach Thyreoidektomie: Schilddrüsenhormon Thyroxin

Ein normales Leben ohne Schilddrüse funktioniert in der Regel nur mit dem täglichen Zuführen von Thyroxin, einem Schilddrüsenhormon, das in Tablettenform eingenommen werden kann. Nach der Operation wird festgestellt, wie die Medikamente dosiert werden müssen. Der Arzt kann den Bedarf an Thyroxin anhand einer Blutprobe erkennen und die richtige Dosis einstellen. Der Hormonspiegel wird regelmäßig kontrolliert und die Behandlung den Bedürfnissen des Patienten angepasst.

Auch nach einer subtotalen Thyreoidektomie, also der Entfernung von Teilen der Schilddrüse, sind Medikamente oft notwendig. Hier muss der Bedarf ebenfalls mit dem Arzt abgestimmt werden. Es kommt aber auch vor, dass das verbliebene Schilddrüsengewebe weiterhin genug Hormone produzieren kann.

Von Michael Brendler

Steigendes Risiko: Krebs gilt mittlerweile als gefährliches Massenphänomen. Bild: dpa

Jedes Jahr lassen sich rund 20.000 Deutsche die Schilddrüse entfernen. Weil Verdacht auf Krebs besteht. Endokrinologen hegen ernste Zweifel, ob eine Operation in jedem Fall notwendig ist.

Zunächst war es nicht mehr als ein unscheinbarer, dunkler Fleck auf dem Ultraschallbild. Kein Grund, sich Sorgen zu machen, hatte Michael A. angesichts des Zufallsbefundes beim Hausarzt gedacht. Dass ein kleiner Knoten in der Schilddrüse derart dramatische Folgen nach sich ziehen kann, das ahnte der damals 39-jährige Nordrhein-Westfale nicht. Er ging daraufhin zur Kernspinuntersuchung, unterzog sich auch einer sogenannten Szintigraphie. Zwar konnte der zuständige Strahlenmediziner keine Beweise für einen bösartigen Tumor entdecken. Doch der Verdacht ließ sich ebensowenig entkräften. „Am besten, wir nehmen die Schilddrüse einfach mal raus“, riet sein Chirurg schließlich, „und nehmen sie genauer unter die Lupe.“

Tatsächlich fand sich nach der Operation ein Krebsgeschwür in der Schilddrüse, knapp vierzehn Millimeter groß. Ein papilläres Karzinom, so wurde es dem Familienvater dann erklärt, aber niemand hatte ihn vorgewarnt: Mit Tumor und Drüse verschwanden gleichzeitig Lebenskraft und Wohlbefinden. Denn die von der Schilddrüse produzierten Hormone kontrollieren im Körper Stoffwechsel, Energieumsatz und Wärmeproduktion.

Die künstlichen Hormone, die er nun ein Leben lang einnehmen muss, ersetzten die körpereigenen eher schlecht als recht. Der zuvor gesunde Mann fühlte sich nun müde und schlapp, die Muskeln brannten bei der kleinsten Anstrengung, der Darm spielte verrückt. „Dafür, dass mir versprochen wurde, man könne heute auch ohne Schilddrüse problemlos leben, fand ich das ganz schön langwierig“, klagt er. Fast drei Jahre lang litt er stark unter den Folgen. Und weil die Nachbehandlung mit radioaktivem Jod zudem seine Zeugungsfähigkeit einschränkte, konnten er und seine Frau sich einen weiteren Kinderwunsch nur mit medizinischer Hilfe erfüllen.

Ähnliche Erfahrungen machen in Südkorea zahlreiche Patienten. Schilddrüsenkrebs gilt dort inzwischen als Massenphänomen. Jährlich wird dort bei mehr als 40.000 Menschen ein Karzinom in der Schilddrüse entdeckt. Damit hat sich die Zahl der Fälle seit Anfang der 1990er Jahre verfünfzehnfacht. Bei fast allen Patienten wird zumindest die halbe Schilddrüse entfernt. In den Vereinigten Staaten ist die Statistik nicht weniger besorgniserregend, dort ist die Zahl der Fälle innerhalb von dreißig Jahren um das Dreifache gestiegen.

Keine andere Tumorform habe sich ähnlich schnell vermehrt, sagt Louise Davies vom Dartmouth Institute for Health Policy and Clinical Practice. Die Hals-Nasen-Ohren-Ärztin aus Hanover im amerikanischen Bundesstaat New Hampshire wollte wissen, warum, und sie fand anhand eines seit 1973 geführten Registers des National Cancer Institutes mit Daten zu Epidemiologie, Wohnbezirk und Behandlung heraus, dass nicht alle Menschen im gleichen Maße von der Krankheit betroffen sind. Besonders häufig entdeckt wird der Tumor bei besser ausgebildeten, besser verdienenden und medizinisch besser versorgten Amerikanern.

Suche nach potentiellen Tätern

Vergeblich suchte Davies nach äußeren Ursachen, etwa krebsbegünstigenden Umwelteinflüssen, die eine solche Schilddrüsenkrebs-Epidemie, wie sie es nennt, erklären könnten. Zwar kann radioaktive Strahlung die Entstehung von Schilddrüsentumoren begünstigen, vor allem bei Kindern. Die Strahlenbelastung der Allgemeinbevölkerung hat sich jedoch in den vergangenen Jahrzehnten kaum geändert, nur die Röntgen- und CT-Untersuchungen haben zugenommen. Aber die hierbei aufgenommenen Dosen sind zu gering, als dass sie die Epidemie verursachen könnten, und für andere Faktoren, die vielleicht Einfluss hätten, wie etwa Östrogen, Übergewicht oder eine nitratreiche Ernährung, besteht kein näherer Verdachtsmoment.

Bleibt nur ein potentieller Täter: die Medizin selbst. „Wir operieren vor allem deshalb mehr Schilddrüsen-Tumoren, weil wir sie früher und häufiger entdecken“, sagt Davies. So beklagen die Südkoreaner ihre höhere Krebsrate erst, seit sie sich dank eines nationalen Screeningprogramms häufiger auf diese Karzinome untersuchen lassen. In den Vereinigten Staaten und in Europa sind verdächtige Knoten dagegen eher Zufallsfunde. Weil die Ultraschallgeräte sensibler werden, stoßen Ärzte bei der Routineuntersuchung von Hals oder Halsschlagader auf kleinste Knoten. Populär sind auch CT- oder Kernspinaufnahmen dieser Körperregion, und so findet sich in jedem sechsten Bild ein verdächtiger Fleck als Nebenbefund.

Zahl der Todesfälle durch Schilddrüsenkrebs kaum gesunken

Ein Fortschritt könnte man meinen. Aber den Patienten ist mit der Behandlung offenbar wenig geholfen: Obwohl die Drüsen nun häufiger entfernt werden, ist die Zahl der Todesfälle durch Schilddrüsenkrebs kaum gesunken. Für Louise Davies gibt es nur eine Erklärung: „Dass es den meisten Patienten nicht hilft, wenn man einen solchen Tumor entfernt.“ Auch ohne diese Behandlung hätte er ihnen wohl nie geschadet.

Bereits 1947 legte der amerikanische Endokrinologe Willard P. Vander Laan im New England Journal of Medicine dar, dass man mit einem Schilddrüsenkrebs durchaus alt werden kann. Er war in Gewebeproben von Autopsien immer wieder auf Karzinome gestoßen, die jedoch selten den Tod verursacht hatten. Knapp vierzig Jahre später machte sich der argentinische Mediziner Rubén Harach mit Kollegen am Universitätsklinikum in Helsinki die Mühe, in den unauffällig wirkenden Schilddrüsenlappen von einhundert Toten systematisch nach Knoten zu suchen. Bei gut einem Drittel wurden sie fündig. Sie stießen vor allem auf sehr kleine, papilläre Krebsgeschwüre. Unabhängig vom Alter der Verstorbenen glichen sich die Tumoren in Größe und Häufigkeit, was den Pathologen zu zwei Annahmen brachte. Entweder hatte sich der Krebs schon früh im Leben der Betroffenen gebildet und anschließend das Wachstum eingestellt. Oder die Geschwüre waren immer wieder von selbst verschwunden und an anderer Stelle neu entstanden. Egal, welche Erklärung stimmte, die Konsequenz war stets die gleiche: Derartig kleine Tumoren waren offensichtlich ungefährlich. „Sie sollten daher auch nicht behandelt werden“, lautete das Fazit damals in den achtziger Jahren.

Auch in Deutschland hat sich die Zahl der Betroffenen seit 1980 mehr als verdoppelt. Jedes Jahr verlieren rund 20.000 Patienten aufgrund eines Tumorverdachts ihre Schilddrüse oder zumindest einen Teil davon. Ob das Organ entfernt wird oder nicht, hängt verblüffenderweise auch vom Wohnort ab. Im bayerischen Landshut zum Beispiel war das Risiko in den Jahren 2009 bis 2013 16 Mal größer als im thüringischen Gera. Ein gravierender Unterschied, der sich nur dadurch erklären lässt, dass die Ärzte in Südbayern bei einem geringeren Krebsverdacht zum Messer greifen. „Ich gehe davon aus, dass auch in der Bundesrepublik in zunehmendem Maße etwas diagnostiziert und operiert wird, das auf die Lebenserwartung der Patienten keinerlei Einfluss hat“, sagt Ralf Paschke, der gerade von der Universität Leipzig als Direktor der Endokrinologie an die Universität von Calgary in Kanada gewechselt ist. Dass immer häufiger operiert wird, sieht er kritisch.

Zwar kann eine Schilddrüsenoperation manchen Patienten das Leben retten: Bestimmte Krebsarten wie das anaplastische Karzinom, das ungefähr ein Prozent dieser Drüsentumoren ausmacht, sind derart gefährlich, dass sie so schnell wie möglich entfernt werden müssen. In die Höhe schossen die Krebsdiagnosen in Asien, Amerika und Europa aber fast ausschließlich deshalb, weil mehr kleine, papilläre Tumoren entdeckt wurden. Diese gelten als harmlos, insbesondere die Mikrokarzinome, die höchstens einen Zentimeter im Durchmesser messen. Nach zwanzig Jahren leben noch 99 Prozent der betroffenen Patienten, wie Studien zeigen.

Kritik an der OP

Gerade in solchen Fällen ist es nicht unbedingt empfehlenswert, die Schilddrüse zu entfernen, wie Mediziner am Kuma Hospital im japanischen Kobe vor ein paar Jahren nachweisen konnten. Die Ärzte hatten 300 Patienten durchschnittlich fünf Jahre lang beobachtet, nachdem sie sich gegen eine Operation entschieden hatten. Ergebnis: 90 Prozent der Karzinome blieben unverändert, in drei Prozent der Fälle waren sie sogar geschrumpft. Nur jeder zwanzigste Teilnehmer dieser Studie musste doch noch operiert werden, weil die Knoten wuchsen oder Metastasen gestreut hatten. „Für die Mehrzahl der Betroffenen scheint es tatsächlich ein Vorteil zu sein, wenn man abwartet, statt zu operieren, und den Tumor engmaschig überwacht“, beurteilt der Schilddrüsenexperte Paschke das Risiko solcher Mikrokarzinome.

Die meisten Ärzte in Deutschland sehen das anders. Viel zu selten werde bei der Entdeckung eines verdächtigen Knotens gründlich geprüft, ob sich denn tatsächlich bösartige Zellen in dem vermeintlichen Tumor befinden, kritisiert der Chirurg Peter Goretzki, Chefarzt am Lukaskrankenhaus in Neuss: „Stattdessen verfahren viele Kollegen nach dem Motto: ,Wir nehmen das Organ lieber heraus, dann können wir nachträglich ja sehen, ob Krebszellen darin zu finden sind.‘“ Die Krankengeschichte von Michael A., dessen Leben vor sieben Jahren durch den Eingriff auf den Kopf gestellt wurde, ist beispielhaft dafür, was einem Patienten mitunter blühen kann. Wenn Knoten etwa auf bloßen Verdacht hin entfernt werden, selbst wenn sie gutartig sind, was regelmäßig passiert. Dabei fände man die bei jedem fünften Deutschen, sagt Goretzki, im Rentenalter sogar bei jedem zweiten. Und 99 Prozent davon seien harmlos, bedürften meist keiner Therapie.

Der Eingriff ist nicht ungefährlich

Vor drei Jahren hat Ralf Paschke anhand von Abrechnungsdaten der AOK zu 25 600 Patienten überprüft, inwieweit Endokrinologen den Krebsverdacht diagnostisch erhärten, bevor sie operieren. „Nur bei einem Fünftel der Patienten wurde zuvor die ganze Palette der Untersuchungsmöglichkeiten ausgenutzt - das ist eigentlich beschämend“, fasst Paschke seine 2013 im Deutschen Ärzteblatt veröffentlichte Studie zusammen. Er hatte ermittelt, dass der wichtigste Test - die Untersuchung einer Gewebeprobe - zu selten eingesetzt wird, viel zu häufig dagegen die Szintigraphie mittels Radionukliden. Aber diese nütze wenig, wie Paschke erläutert: Die Spezifität dieser Methode sei zu gering, um daraus sichere Diagnosen abzuleiten und Aufschluss über die Malignität zu erhalten, also zu klären, ob es sich um einen bösartigen Tumor handelt. Und nicht selten, sagt Paschke, werde die Operation nachträglich gerechtfertig, weil ein Mikrokarzinom an ganz anderer Stelle im Organ gefunden worden sei. Mit der ursprünglichen Indikation hatte dieser zufällige Fund aber nichts zu tun.

Dabei ist der Eingriff nicht ungefährlich. Einer von hundert Patienten leidet nach Auskunft von Henning Dralle, Direktor der Chirurgie am Universitätsklinikum in Halle, anschließend unter einer dauerhaften Stimmbandlähmung. Und immerhin jeder Zweite klagt anschließend über Stimmprobleme. Sechs Prozent der Operierten verlieren außerdem ihre Nebenschilddrüsen und müssen erleben, dass ihr Kalziumstoffwechsel außer Kontrolle gerät.

Dennoch trauen sich mehr als tausend Kliniken und somit die Hälfte aller Krankenhäuser in Deutschland diesen Eingriff zu, was Fachleute anmahnen. Gerade in kleineren Häusern mit weniger als 300 bis 500 Operationen pro Jahr sei die Rate der Komplikationen oft deutlich höher als in spezialisierten Zentren, sagt Paschke: „Den Chirurgen fehlt es häufig an der nötigen Routine.“ Abgesehen davon weist Peter Goretzki noch auf einen anderen Grund hin, warum Patienten skeptisch sein sollten: Wenn in einer Klinik beispielsweise nur zwanzig bis dreißig Schilddrüsen im Jahr operiert werden, habe man dort weder die Erfahrung noch den Wunsch, mit großem Einsatz diejenigen Patienten aufzuspüren, die überhaupt keine Operation brauchen.

Abwarten dürfte bei einem Mikrokarzinom-Verdacht in den allermeisten Fällen die bessere Alternative sein. Dass sich die Betroffenen davon überzeugen lassen, hält Ralf Paschke allerdings für unwahrscheinlich: „Wenn Sie einem Patienten hierzulande sagen, er hätte Krebs, dann will er diesen Krebs auch loswerden, egal wie gefährlich der Tumor ist.“ Die Angst wiegt schwerer. Um sie zu entkräften, verfiel Rubén Harach, der als Pathologe in Argentinien die Diagnostik beeinflusste, schon Mitte der 1980er Jahre auf eine interessante Idee: Ein Krebs, der kein richtiger Krebs sei, müsse schließlich auch nicht Krebs heißen. Harach riet zur Umbenennung.