Der Junge muss an die frische Luft Buch Inhalt

Unter den Lebenden ist derzeit in Deutschland kaum ein besserer Unterhaltungskünstler aufzutreiben als Hape Kerkeling.

Das ist so, und so ist es auch wieder nicht. Aus zwei Gründen. Erstens ist Kerkeling kaum in Deutschland, sondern eher in Italien aufzutreiben. Zweitens ist er schon seit Jahren nicht mehr als Unterhaltungskünstler in Erscheinung getreten - sofern wir über seine jüngste Inkarnation als Schlagersänger nachsichtig den Mantel des Schweigens decken wollen.

Aber schon die schiere Spanne seiner Karriere macht Kerkeling zum Klassiker. Wer heute um die 40 Jahre alt ist, hat sich als Kind in der albernen Figur des "Hannilein" erkannt, später über seine anarchische Travestie als Königin Beatrix gelacht und zuletzt über die zum Grunzen geronnene Jovialität des Lokaljournalisten Horst Schlämmer gestaunt. Sätze wie das geschnaufte "'schab Rücken" oder das schrille Wörtchen "Hurz!" sind in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. Ebenso wie "Ich bin dann mal weg", der Titel seiner sensationell erfolgreichen Wandergeschichte über den Jakobsweg.

Darin machte sich der lustige Typ aus dem Fernsehen auf eine spirituelle Reise. Und verstand es, mit seinem zwanglosem Plauderton sogar Atheisten zu fesseln, denen Bücher generell zu textlastig sind. Das war 2001, und "Ich bin dann mal weg" hat sich seitdem so oft verkauft, dass aus der gedruckten Auflage jeder Einwohner von Berlin und Hamburg mit mindestens einem Exemplar versorgt werden könnte. Dieser Überraschungserfolg im abseitigen Segment des Buchmarktes machte Kerkeling reich, und er machte ihn frei. So frei, dass er seinen intakten Instinkten folgen und sogar das sicher nicht unverlockende Angebot ablehnen konnte, "Wetten, dass..?" zu moderieren. Und frei genug, um sich in aller Ruhe an einen Nachfolger von "Ich bin dann mal weg" zu setzen.

Es hätte ein Buch über toskanische Gartenbaukunst sein können. Ein augenzwinkernder Weinführer. Vielleicht sogar ein heiterer Schlüsselroman über die Fernsehbranche. Was Kerkeling nun mit "Der Junge muss an die frische Luft" abliefert, ist der Roman seiner Kindheit. Ein Buch darüber, wie er wurde, was er ist.

Tragischer Hintergrund

Wofür er sich gleich zu Beginn kokett entschuldigt. Es sei "schon ein ziemliches Ding, dass jemand, dessen Namen man im deutschen Sprachraum nicht einmal wirklich kennt, großspurig ein Buch über seine Kindheit verfasst". Großspurig sind die biografischen Anekdoten und Episoden allerdings auf keiner der 311 Seiten.

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Was er schreibt, ist vielmehr von entwaffnender Bescheidenheit. Etwa jene Szene, in der er einer todkranken Neunjährigen den letzten Wunsch erfüllt, ihr als Horst Schlämmer zu begegnen. Danach denkt er, tief beeindruckt und allein im Hotelzimmer: "Das war Horsts letzter und vielleicht wichtigster Auftritt. Horsts komische Mission ist erfüllt." Und: "Vielleicht muss ich doch irgendwann einmal die Ereignisse meiner eigenen Kindheit mutig Revue passieren lassen?"

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Was Kerkeling im Anschluss mit spürbarer Fabulierlust entwirft, ist das subjektive Panorama einer westdeutschen Kindheit in den ruhigeren Ausläufern des Ruhrgebiets. Nicht weniger, eher ein bisschen mehr. Was unter anderem daran liegt, dass er in der richtigen Dosierung den Dalai Lama sprechen oder Zitate von Søren Kierkegaard fallen lässt: "Vorwärts leben wir, und erst rückwärts verstehen wir."

Gedeckt wird dieser hohe Ton durch eine zentrale Katastrophe, um die das ganze Buch kreist. Als Achtjähriger verbringt Kerkeling eine Nacht in "katatonischer Starre" im Bett seiner an einer Überdosis Schlaftabletten sterbenden Mutter. Das Trauma vernichtet das kindliche Subjekt und entlässt eine neue Persönlichkeit hinaus an die frische Luft. Einen Menschen mit dem unbedingten Willen, die ganze Welt zum Lachen zu bringen - eben weil er damit zuvor bei der depressiven Mutter scheiterte.

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Es ist allein dieser tragische Hintergrund, der einen Quatschmacher in einen großen Komiker verwandeln kann. Die Selbsterfindung des Hape Kerkeling. Erzählt ist die entscheidende Passage schlicht und ergreifend, wie auch die nicht minder wichtige Prophezeiung der sterbenden Großmutter: "Aus dir wird einmal etwas ganz Besonderes werden, denn du wirst eines Tages sehr berühmt sein. Das wirst du. Die Oma kann das jetzt schon sehen. Verstehst du?"

"Er bleibt Junggeselle!", verfügt die Großmutter

Die männlichen Figuren in diesem Buch werden vom Erzähler auch geliebt, doch sind sie in der Regel "hilflos". Und werden deshalb resolut "zum Schweigen angehalten", wenn's brenzlig wird: "Er bleibt Junggeselle!", verfügt die Großmutter: "Also fangen wir gar nicht erst damit an, ihn dauernd nach einer 'kleinen Freundin' zu fragen. Lasst ihn in Ruhe!"

Überhaupt wird die komplette Verwandtschaft mit wenigen Strichen plastisch und lebendig gezeichnet. Es ist eine Welt aus Zigarren, Likörchen, Kruzifix, Tankstellen von Lego und "Klimbim" oder "Bonanza" im Fernsehen. Vor allem aber ist es eine Welt der starken Frauen. Da ist Oma Änne, deren Krämerladen dem kleinen Kerkeling als Kindergarten diente, wo er lernte, den tratschenden Leuten ihr Leben abzulauschen. Oder jene flamboyante Zufallsbegegnung, von der sich der Halbwüchsige gerne adoptieren lassen würde: "Du bist Barbara Valentin! Ich kenne dich. Du bist toll", und wie Barbara Valentin ihm ein Lächeln schenkt: "Danke, kleiner Mann!" Groß auch Tante Lisbeth, die "klug, schön, gewitzt, patent, versöhnlich, geduldig, lebensnah" und außerdem Nonne ist. Jahre später wird Kerkeling ihr erklären müssen, was "schwul" bedeutet, und sie wird lachen.

Hildegard Knef schrieb einst über ihr Leben ganz literarisch in "Der geschenkte Gaul". Weil Hape Kerkeling sein Leben eher hinduistisch als "vorübereilendes Schauspiel" begreift, überbietet er mit seiner Biografie die berühmte Kollegin an Witz und unterbietet sie an Bombast. Selbst als er sich am Ende doch noch am Pathos versucht, verrutscht es ihm ganz zart ins Poetische: "Und gleichzeitig bin ich auch Tante Lore und die Richtung, in die sie mich im Kinderwagen auf dem Feldweg schiebt. Ich bin die gescheckte Kuh auf der Weide, das gelbe Korn auf dem Feld und der rote Mohn am Wegesrand. Ich bin der schmale Trampelpfad und dessen Ende. Ich bin der wolkenlose Himmel. Ich bin wach."

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Hans-Peter wächst im Ruhrpott der 1970er Jahre auf. Die Familie ist groß, laut, lustig und immer in Feierlaune. Die einen Großeltern leben auf dem Land, die anderen in der Stadt. Der Vater ist oft unterwegs auf Montage, aber die Mutter, die Hans-Peter abgöttisch liebt, ist ja da. Und es ist das Allerschönste für den 9-Jährigen, wenn er die Mutter mit seinen Witzen und Parodien von Verwandten und Bekannten zum Lachen bringen kann. Doch im Laufe der Jahre lacht seine Mutter immer weniger. Sie wirkt abwesend und schaut stundenlang aus dem Fenster. Fast so, als ob sie sich Stück für Stück aus dem Leben verabschiedet. Und kein Scherz dieser Welt kann sie wieder zurückholen. Im Jahr 2014 erschien mit „Der Junge muss an die frische Luft” das Buch von Hape Kerkeling, in dem der Entertainer und Komiker von seiner Kindheit und dem Verlust seiner Mutter erzählt. Caroline Link hat nun die tragikomischen Geschichten ganz im Stil der Vorlage verfilmt. Denn in allen Gewerken – ob die detailgetreue und authentische Ausstattung, die sonnigen Bilder von Judith Kaufmann oder die hemdsärmelig rotzigen Ruhrpott-Dialoge innerhalb der Kerkeling-Familie – zeigt sich die große Wärme und Herzlichkeit, die schon das Buch auszeichnet. Doch der Film steht und fällt natürlich mit der Besetzung von Hape Kerkeling als Kind. Und Julius Weckauf ist ein absoluter Glücksgriff. Jeder Blick, jedes Hochziehen der Augenbrauen, jeder noch so kleine Auftritt – all das ist eine perfekte Verkörperung des Künstlers. Gerade auch im Zusammenspiel mit Luise Heyer, die Hapes Mutter mit einem genauen Gespür für die fröhlichen und auch die tieftraurigen Momente verkörpert, entsteht zwischen den beiden eine ganz großartige Chemie als Grundlage für eine tief berührende Geschichte, die bis zum hoffnungsvollen Schluss das Leben und die Familie feiert.

Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung

Auch ohne tieferes Wissen um die prominente Hauptfigur lassen sich die wesentlichen Merkmale dieser außergewöhnlichen Biografie entschlüsseln. Die Schüler*innen können darlegen, inwieweit Komik auch in ihrem Umfeld der Konfliktbewältigung dient. Im Fall Kerkelings, der 1991 gegen seinen Willen als homosexuell geoutet wurde, beinhaltet diese humoristische Herangehensweise auch das Spiel mit Geschlechterrollen. Die sensible Darstellung im Film ermöglicht eine offene Diskussion des Themas, zum Beispiel über den Unterschied zwischen Performance und Identität. Mittels der Themen Heimat und Dialekt – hier am Beispiel des Ruhrgebiets – können die Jugendlichen erörtern, wie ihre Heimat in der Regel im Film präsentiert wird und was man dadurch über Menschen erfährt. Anhand Hapes unbeirrbarem Willen zur Berühmtheit kann schließlich diskutiert werden, wie sich die medialen Voraussetzungen für eine Promi-Karriere seit damals verändert haben.

Quelle: SchulKinoWochen NRW

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